Gelsenkirchen. Was am Phänomen der „mutlosen Mädchen“ dran ist, warum die Gen Z leidet – und was das mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau zu tun hat.
Sie sind erschöpft, kraftlos und haben sich sozial weitgehend isoliert: Der Hamburger Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort hat ein Phänomen beobachtet, das er „mutlose Mädchen“ nennt, weil diese Teenager nicht im eigentlichen Sinne depressiv sind. Wir wollten wissen, ob es sich um ein vereinzeltes Auftreten handelt – oder ob das Phänomen auch in unserer Region zu beobachten ist. Kinder- und Jugendpsychiaterin Marion Kolb von der Bergmannsheil und Kinderklinik Buer in Gelsenkirchen hält es zumindest für ein gesellschaftlich relevantes Problem. Georg Howahl sprach mit ihr.
Frau Kolb, sind wir beim Thema „mutlose Mädchen“ einer neuen Diagnose auf der Spur? Konnten Sie das Phänomen auch schon in Ihrer täglichen Arbeit beobachten?
Kolb: Dieses Phänomen „mutlose Mädchen“ beschreibt unter diesem Titel bisher ausschließlich Herr Schulte-Markwort in seinem Buch. Wir in der Tagesklinik in Gelsenkirchen behandeln tatsächlich eher manifest depressive Jugendliche, verstärkt seit der Corona-Pandemie. Das sind dann wirklich Jugendliche, die mutlos, kraftlos, erschöpft und perspektivlos sind, die die Schule nicht mehr besuchen und auch sich sozial massiv zurückgezogen haben, sodass wichtige Lebensbereiche nicht mehr funktionieren. Deswegen sind sie dann bei uns in der Tagesklinik und werden entsprechend behandelt.
Das Phänomen „mutlose Mädchen“ wäre also eher untypisch?
Es wird bis jetzt zumindest nicht in der Fachliteratur erwähnt. Was hingegen schon beschrieben ist, insbesondere seit der Corona-Pandemie: Dass zunehmend Jugendliche depressiv und ängstlich sind – und damit behandlungsbedürftig. Was Herr Schulte-Markwort beschreibt, finde ich gesellschaftspolitisch interessant, dass eben viele Jugendliche sagen: Ich habe keine Perspektive, ich weiß nicht, was ich mit meinem Leben anfangen soll, wo es für mich hingehen soll – ich bin irgendwie erschöpft und kraftlos.
Durch welchen Missstand in der Gesellschaft ist das zurückzuführen?
Es betrifft vor allem Mädchen, deren Mütter mitten im Beruf stehen und sehr erfolgreich sind. Die Hauptlast in der Familie liegt gerade seit der Corona-Pandemie auch noch auf diesen Müttern, neben dem Job also der Haushalt und die ganze Care-Arbeit für die Familie. Dass diese Mädchen nicht auch noch so erschöpft sein möchten wie ihre Mütter, sondern einen anderen Weg suchen, finde ich spannend. Das ist gesellschaftspolitisch relevant, weil es beschreibt, dass die Gleichberechtigung von Mann und Frau noch ausbaufähig ist.
Mädchen in der Pubertät lassen sich von Instagram, TikTok und Youtube unter Druck setzen
Leiden Mädchen psychisch anders als Jungs?
In der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist es immer schon so, dass verstärkt die kleinen Jungs mit expansiven Störungen auffallen, also mit Aufmerksamkeitsstörungen oder Störungen des Sozialverhaltens, schon im Kleinkindalter. Die Mädchen fallen eher im Jugendlichen-Alter auf, auch mit depressiven Erkrankungen. Das hat sicherlich damit zu tun, dass Mädchen in der Pubertät mit den hormonellen Veränderungen und der Unsicherheit zurechtkommen müssen. Wir haben heutzutage eine digitale Generation, die sich noch mehr vergleicht und noch mehr dazugehören will als vorhergehende Generationen. Die sich stärker beeinflussen lässt von Influencern. Das macht mehr Stress. Und da sind Mädchen anfälliger als Jungs, weil sie sozial noch mal anders aufgestellt sind als Jungs. Und weil die Freundschaften zwischen Mädchen anders gestaltet werden, als Jungs sie gestalten.
Ab wann wird das Verhalten der Mädchen problematisch?
Wenn die Jugendlichen sich wirklich zurückziehen, keine Freundschaften mehr haben, keine Freizeitaktivitäten mehr aufnehmen. Und natürlich, wenn sie die Schule nicht mehr besuchen können.
Wenn sie sich sozial zurückziehen, verabschieden sie sich dann auch aus den Sozialen Medien?
Nein, dabei geht es tatsächlich um die realen sozialen Kontakte, es ist eher so, dass diese Jugendlichen dann nur noch vor dem PC sitzen oder mit ihren Mobilgeräten beschäftigt sind.
Nachwehen der Corona-Pandemie und Mütter und Väter als Vorbilder
Was ist dann zu tun?
Dann müssen sie auch wirklich in eine Tagesklinik oder Klinik, damit sie wieder alltagsfit gemacht werden. Oder wenn solche Phasen von depressiver Verstimmtheit oder Hoffnungslosigkeit mehrere Wochen dauern und eben nicht von alleine verschwinden. Oft haben die Eltern dann auch keinen Zugang mehr zu den Jugendlichen und wissen nicht, was sie in einer solchen Situation tun sollen. Wichtig ist, dass man allen Jugendlichen ein gesundes Selbstbewusstsein mitgibt, dass sie lernen, sich abzugrenzen. Und dass sie lernen zu sehen: Es ist okay wie ich bin! Dann können sie auch entspannter durch Krisen gehen. Und da sind natürlich die Erwachsenen, die Eltern insbesondere, wichtige Vorbilder. Denn wir leben ja in global unsicheren Zeiten, mit der Wirtschaftskrise, der Klimakrise und auch mit der Corona-Pandemie.
Sind die Kinder- und Jugendpsychiatrien seit Corona besonders stark belastet?
Wir leiden wirklich noch an den Folgen der Corona-Pandemie. Wir haben unendlich lange Wartelisten. Auch in den Kliniken, den Praxen, den Schulen sind Mitarbeiter krank, Ressourcen schwinden, die Hilfesysteme sind überlastet. Und je ressourcenärmer die Familien sind und je sozial schwächer, desto schwieriger ist es für diese Familien, das noch zu kompensieren. Diese Familien leiden besonders. Das sehen wir gerade hier in Gelsenkirchen, denn es ist ja eine der ärmsten Städte in Westdeutschland.
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