Bottrop/Essen. Neid, Unsicherheit und Missverständnisse: Der Alltag als Patchwork-Familie ist herausfordernd. In NRW gibt es daher eine neue Selbsthilfegruppe.
Eine zweite Chance. Das bedeutet Jessica und Pascal Klösener ihre Patchwork-Familie. Doch Eifersucht, Missverständnisse und andere Streitigkeiten stellen ihr Familienleben in Bottrop immer wieder auf die Probe. „Es gibt Situationen, in denen ich denke: Patchwork? Nie wieder“, sagt die Schulsozialarbeiterin.
Dabei hat sie nach der Scheidung von ihrem ersten Ehemann – mit dem sie eine gemeinsame Tochter hat – gezielt nach einem Partner gesucht, der ebenfalls Kinder mit in die Beziehung bringt. Denn sie wollte keine eigenen Kinder mehr bekommen. Über eine Dating-App lernte sie Pascal kennen, drei Monate später zog der Brandmeister zu ihr und der damals fünfjährigen Luisa – „sehr naiv und blauäugig“, finden sie rückblickend.
Bottroperin: „Das Thema Patchwork ist in der Gesellschaft noch nicht angekommen.“
Obwohl beide vorab etliche Fachbücher lasen, sich in Internetforen mit anderen austauschten und bei einer Beratung für Patchwork-Familien waren, seien sie nicht wirklich auf die vielen Herausforderungen des Zusammenlebens vorbereitet gewesen. „Wir haben uns mit unseren Problemen sehr allein gefühlt. Das Thema Patchwork ist in der Gesellschaft noch nicht wirklich angekommen“, sagt die 40-Jährige.
Wie viele Patchwork-Familien es in Deutschland genau gibt, lässt sich nicht sagen, da bei Eheschließungen nur gemeinsame Kinder erfasst werden. Das Bundesfamilienministerium schätzt aber, dass sechs bis 13 Prozent aller Familien im Patchwork-Modell zusammenleben. Tendenz steigend. So wurden laut Statistischem Bundesamt im vergangenen Jahr 143.800 Ehen geschieden. Etwa die Hälfte der Paare hatte minderjährige Kinder.
Die böse Stiefmutter aus dem Märchen: „Bonus-Eltern“ statt Stiefeltern
Diese müssen nicht nur die Trennung ihrer Eltern verarbeiten, sondern werden häufig auch mit neuen Partnerinnen und Partnern konfrontiert – welche die Rolle ihrer Stiefeltern einnehmen. Die böse Stiefmutter, die in die heile Welt der Kinder eindringt: Von diesem negativen Bild, das in Märchen wie „Aschenputtel“ oder „Schneewittchen“ vermittelt wird, wollen sich die Klöseners distanzieren.
Wie viele andere Betroffene sprechen sie daher bewusst von „Bonus-Eltern“ und „Bonus-Kindern“. „Die Vorsilbe „Stief“- (althochdeutsch für ‚hinterblieben‘, ‚verwaist‘) bedeutet, dass der Stiefelternteil einen fehlenden Elternteil ersetzt. Dies ist historisch gesehen zwar richtig, entspricht heute jedoch überwiegend nicht mehr der Realität in Stieffamilien“, heißt es dazu vom Bundesfamilienministerium.
Patchwork-Familien: Komplizierte Beziehung zu „Bonus-Kindern“
Dass sie immer für ihre „Bonus-Kinder“ da sein werden, versprachen Jessica und Pascal Klösener diesen auch auf ihrer Hochzeit vor drei Jahren. Für die Feier reisten alle nach Norderney, auf ihre Lieblingsinsel. Ich weiß, dass ich nicht eure Mutter bin. Aber das heißt nicht, dass ich euch nicht auf eurem Weg begleiten kann“, wandte sich Jessica Klösener in ihrer Rede an die Söhne ihres Mannes. Die beiden leben bei ihrer Mutter, sind nur jedes zweite Wochenende in Bottrop zu Besuch.
Ihre Beziehung sei auch nach all den Jahren „kompliziert“, sagt Jessica Klösener: „Ich habe gedacht, es wird mit der Zeit einfacher. Aber da sind immer wieder Spannungen zwischen Pascals Söhnen und mir. Gefühlt fangen wir jedes Wochenende bei Null an.“
Für Pascal Klösener habe es wiederum einen „bitteren Beigeschmack“, dass er mit seinen Söhnen viel weniger Zeit verbringt als mit Jessicas Tochter. „Das führt zu Eifersucht zwischen den Kindern“, sagt der 41-Jährige.
Vorurteile und Unverständnis: Paar gründet Selbsthilfegruppe für Patchwork-Familien
Um sich über all diese Probleme mit „Gleichgesinnten“ austauschen zu können, haben die Klöseners im Frühjahr 2020 eine Selbsthilfegruppe gegründet. Mittlerweile treffen sie sich regelmäßig mit vier anderen Paaren. Sie sprechen über Termine beim Jugendamt, Konflikte mit Ex-Partnern, Streit unter den Kindern.
„Viele Leute haben Vorurteile. Ich habe manchmal das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. Aber in der Gruppe fühlt man sich wirklich verstanden“, sagt Lukas Czaja. Der 37-Jährige und seine gleichaltrige Partnerin Jennifer Busch leben seit rund 1,5 Jahren als Patchwork-Familie zusammen in Essen.
Er brachte eine heute dreijährige Tochter mit in die Beziehung, sie eine siebenjährige – beide heißen Marlene. „Die Kinder haben nicht nur den gleichen Vornamen, sie lieben sich auch“, sagt der Unternehmer. Mittlerweile hätte sich der Familienalltag eingespielt, „die große und die kleine Marlene“ wohnen beide zeitweise bei ihnen in Essen.
Selbsthilfegruppe für Patchwork-Familien
Der englische Begriff „Patchwork“ heißt übersetzt Flickwerk. Eine Textiltechnik, bei der verschiedene Stoffreste zusammengeflickt werden – die so unterschiedlich sind wie die Mitglieder einer Patchwork-Familie.
Die Online-Treffen der Selbsthilfegruppe finden alle zwei Wochen statt. Wer teilnehmen möchte, kann sich bei Jessica Klösener (jessica160681@web.de) melden.
Emotionale und bürokratische Herausforderungen einer Patchwork-Familie
Doch vor allem zu Beginn sah sich das Paar vielen Herausforderungen gegenübergestellt, bürokratischen und emotionalen. „Für mich war es eine ganz schlimme Erkenntnis, dass ich nie die Mama von der kleinen Marlene sein kann. Das tut mir auch bis heute manchmal weh“, so Jennifer Busch.
Ihr Partner musste seiner „Bonus-Tochter“ hingegen klarmachen, dass sie ihn nicht „Papa“ nennen solle: „Da war sie ganz echauffiert und fühlte sich zurückgewiesen. Sie wusste einfach nicht, wer ich für sie bin.“ Inzwischen hat die Familie einen Erklärungsansatz gefunden.
„Jenny hat Marlene erklärt, dass sie ein Herz mit zwei Kammern hat. Wir sprechen seitdem vom roten und vom blauen Herz, der Papa ist das rote, ich das blaue“, so Lukas Czaja. Wenn Marlene nach der Zeit bei ihrem Vater zurück zu Jennifer Busch und Lukas Czaja kommt, sage sie oft: „Ich bin noch im roten Herz. Ich brauche noch ein bisschen Zeit.“
Patchwork-Familie: Eine „Chance mit vielen Hindernissen.“
Auch wenn der Wechsel zwischen den Familien und das Zusammenleben in neuen Konstellationen für Kinder oft nicht einfach sei, bietet die Patchwork-Familie laut Forschenden viele Vorteile. Durch ihre „Bonus-Eltern“ gewinnen die Kinder etwa eine zusätzliche Bezugsperson, betont das Deutsche Jugendinstitut.
Auch Jessica Klösener hofft, für ihre „Bonus-Kinder“ die Rolle einer guten Freundin einnehmen zu können. Außerdem lerne man viel voneinander und könne sich persönlich weiterentwickeln, betonen die Klöseners. Die Patchwork-Familie ist ihre zweite Chance, daran halten sie fest. Es sei nur eben eine „Chance mit vielen Hindernissen.“