Essen. Das Leben als Patchworkfamilie ist komplex und bringt viele Herausforderungen mit sich. Diesen Rat geben zwei Familientherapeutinnen aus Essen.

Wenn sich Mama und Papa scheiden lassen und plötzlich neue Partner an ihrer Seite sind, kann das für Kinder ganz schön verwirrend sein. Was muss passieren, damit in einer Patchworkfamilie alle zufrieden sind? Darüber hat Michelle Kox mit den Essener Familientherapeutinnen Sabine Hertwig und Beate Kuhlmann gesprochen.

In Deutschland gibt es immer mehr Patchworkfamilien. Woran liegt das?

Kuhlmann: Das traditionelle Familienbild hat sich stark verändert. Paare trennen sich schneller, wenn es kriselt, weil sie nicht mehr zwingend finanziell voneinander abhängig sind. Mit Patchwork beschäftigen wir uns mittlerweile täglich.

Ist es ein Fortschritt, dass sich Eltern heute eher trauen, sich zu trennen, anstatt unglücklich zusammen zu bleiben?

Hertwig: Dass der Partner schneller ausgetauscht wird, hängt sicherlich auch mit der Schnelllebigkeit und

Sabine Hertwig ist 53 Jahre alt und Familientherapeutin in Essen-Rüttenscheid.
Sabine Hertwig ist 53 Jahre alt und Familientherapeutin in Essen-Rüttenscheid. © Dietmar Pohlmann

Konsumhaltung unserer Zeit zusammen. Oft könnte es sich lohnen, an den Beziehungsproblemen zu arbeiten. Viele Themen nimmt man sonst auch in eine neue Beziehung mit.

Kuhlmann: Es ist aber nicht empfehlenswert, nur wegen der Kinder zusammenzubleiben. Aus destruktiven Beziehungen sollte man sich definitiv lösen. Es ist für Kinder sehr belastend, wenn sie ständig von Streit umgeben sind oder der Klebstoff für ihre Eltern sein müssen.

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Was sind die größten Herausforderungen in Patchworkfamilien?

Hertwig: Es gibt da ein Zitat: „Man kann den Faden nicht da wieder aufnehmen, wo man ihn fallengelassen hat.“ Es gelten für Patchworkfamilien andere Regeln als für eine gewachsene Familie, das ist vielen Eltern nicht bewusst.

Kuhlmann: Patchwork ist sehr komplex und jede Menge Arbeit. Es müssen viele neue Dynamiken geschaffen werden. Man darf nicht erwarten, dass das einfach wird. Der Prozess der Neuzusammensetzung dauert in der Regel drei bis fünf Jahre. Die Zeit muss man sich als Familie geben und vor allem erstmal durchstehen.

Wie schafft man es, die Zeit durchzustehen?

Hertwig: Mit viel Zeit und Geduld. Nur, weil die Eltern entschieden haben, dass nun alle ihr Leben miteinander verbringen, heißt es ja nicht, dass die Kinder das auch sofort möchten. Diese Einsicht fällt vielen Eltern schwer. Man ist frisch verliebt und möchte sich so schnell wie möglich ein Leben mit dem neuen Partner aufbauen. Aber Kinder müssen langsam an die neue Situation ran geführt werden. Vielleicht funktioniert ein gemeinsamer Urlaub oder das Zusammenleben nicht gleich im ersten Jahr.

Kuhlmann: Außerdem muss die Erkenntnis gegeben sein, dass alles, was in dieser Zeit an Konflikten, Machtkämpfen und Eifersucht entsteht, normal ist. Wenn die Kinder schwierig werden oder in der Schule plötzlich schlechte Leistungen erbringen, sollte man das als normales Anpassungsverhalten einordnen.

Wann ist der perfekte Zeitpunkt, um seinen Kindern den neuen Partner vorzustellen?

Beate Kuhlmann ist 57 Jahre alt und Familientherapeutin in Essen-Rüttenscheid und Düsseldorf.
Beate Kuhlmann ist 57 Jahre alt und Familientherapeutin in Essen-Rüttenscheid und Düsseldorf. © Dietmar Pohlmann

Kuhlmann: Ich glaube nicht, dass es für irgendwas im Leben perfekte Lösungen gibt. Generell gilt die Regel: lieber etwas später als zu früh.

Hertwig: Man kann den Kindern ruhig von Anfang an erzählen, dass man gerade jemanden kennenlernt. Sie spüren sowieso, wenn irgendwas anders ist. Es kann aber auch dazugesagt werden, dass das erstmal keine Sache ist, über die sie sich Gedanken machen müssen.

Wie können Eltern verhindern, dass sich ein Kind durch den neuen Partner oder ein Stiefkind zurückgesetzt fühlt?

Kuhlmann: Komplett verhindert wird man das nicht. Gerade dann, wenn ein neues Baby hinzukommt, ist es völlig normal, dass dieses am Anfang mehr Aufmerksamkeit bekommt. Das Kind muss aber Dinge sagen dürfen wie: „Ich finde doof, dass du jetzt ein neues Kind hast!“

Hertwig: Es ist wichtig, die Wahrheit zu benennen. Erwachsene neigen immer sehr schnell dazu, von Problemen abzulenken. Zeigt euren Kindern, dass ihr ihre Gefühle versteht. Sagt Dinge wie: „Das ist jetzt doof für dich, oder? Das kann ich gut verstehen!“

Und wenn noch Konflikte mit dem Ex-Partner bestehen – sollte man auch darüber sprechen?

Hertwig: So wenig wie möglich und so viel wie nötig. Man kann Kinder nicht aus allem raushalten. Sie bekommen sowieso mit, wenn schlechte Stimmung herrscht. Aber man sollte Streit nicht vor ihnen austragen oder schlecht über den Ex-Partner sprechen. Mama und Papa bleiben die liebsten Menschen im Leben. Wenn einer den anderen doof findet, hat das Kind das Gefühl, dass es einen Fehler begeht.

Sollte man mit seinem Kind über die neue Liebe des Ex-Partners sprechen?

Hertwig: Das sollte der Ex-Partner besser selbst tun. Am besten teilen sich die Eltern gegenseitig mit, wenn sie jemanden kennengelernt haben. Das Kind sollte nicht als Botschafter genutzt werden oder über den neuen Partner ausgefragt werden. Außerdem sollte man nicht vor den Kindern schlecht über den neuen Partner sprechen. Kinder sind mit ihren leiblichen Eltern loyal und wenn man sie gegen den neuen Partner aufhetzt, führt das dazu, dass sie sich in seiner Gegenwart nicht wohlfühlen.

Dürfen sich Stiefeltern in Erziehungsfragen ihrer Stiefkinder einmischen?

Kuhlmann: Es ist sicherlich schlau, sich nicht auf die Position des leiblichen Vaters oder der leiblichen Mutter zu stellen. Das bedeutet aber nicht, dass ich als Stiefelternteil nicht sagen darf, wenn mich etwas stört. Anstatt zum Beispiel zu sagen „Hör auf beim Essen zu schmatzen, das tut man nicht“, könnte man von sich persönlich sprechen und sagen: „Mich stört das ein wenig, wenn du so schmatzt.“

Inwiefern sollte der Ex-Partner in der neuen Familienkonstellation noch eine Rolle spielen?

Hertwig: Ex-Partner sollten als Vater oder Mutter gewürdigt werden und gehören insofern auch weiterhin zur Familie. Das ist für neue Partner oft schwer auszuhalten.

Kinder von getrennten Eltern müssen oft zwischen zwei Wohnungen wechseln. Wie belastend ist das?

Hertwig: Das ist sehr davon abhängig, wie sehr sich die Eltern noch verstehen. Wenn das Kind im Frieden übergeben wird, dann ist das in der Regel kein Problem. Wenn Kinder spüren, dass Mama und Papa zusammenstehen und Verantwortung übernehmen, dann können sie auch mit ungünstigen Umständen umgehen. Wenn es im Flugzeug wackelt, gilt der erste Blick der Stewardess und wenn die ruhig bleibt, dann ist man selbst auch entspannter.

Kuhlmann: Der Wechsel zwischen zwei Wohnungen kann dann auch als Abenteuer gesehen werden. Wenn sich die Eltern jedoch gegenseitig nicht ausstehen können, entsteht das Gefühl, dass man Mama oder Papa verrät.

Familientherapie in Essen-Rüttenscheid

Die Familien- und Paartherapeutinnen Beate Kuhlmann und Sabine Hertwig haben 2008 in Essen-Rüttenscheid die Praxis „projektfamilie“ auf der Christophstraße 1 eröffnet.

Kuhlmann ist gelernte Erzieherin, Sozialpädagogin und Heilpädagogin und führt noch eine zweite Praxis auf der Bruchstraße 105a in Düsseldorf. Hertwig ist gelernte Erzieherin und Heilpädagogin und kommt gebürtig aus Essen.

Wann ist es sinnvoll, Beratung in Anspruch zu nehmen?

Hertwig: Wenn man als Erwachsener Verantwortung übernehmen möchte und bereit ist, sein eigenes Ego im Sinne der Kinder runterzuschlucken. Wenn man dazu bereit ist, neue und alte Beziehungen neu zu gestalten, anstatt einen Kampf zu führen. Sobald Konflikte vor Gericht besprochen werden, hat man sich für Krieg entschieden. In dem Fall macht Therapie keinen Sinn.

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