Essen. Martina ist ein Spenderkind, 1985 durch Fremdsamen gezeugt. Bis vor kurzem wusste sie nichts davon. Nun sucht sie ihren genetischen Vater.
Wenn Martina in den Spiegel blickt, fragt sie sich, wen sie dort sieht. Lange, blonde Haare, dunkle Augen, geschwungene Lippen. Ihr Spiegelbild macht sie wütend. Wer schaut sie dort an? Schon als Kind stellt sie ihrer Mutter Fragen: Wurde sie als Baby vertauscht? Schreien gelassen? Nein. 33 Jahre lang lebt sie mit diesem „diffusen Gefühl“, dieser Ahnung. Bis es nicht mehr geht. Am Telefon verlangt sie von ihrer Mutter, ihr endlich zu sagen, warum sie sich schon ihr Leben lang fremd in ihrer eigenen Familie fühlt.
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Martina ist ein Spenderkind, 1985 in Essen durch Fremdsamen gezeugt. Als sie diese Worte hört, bricht ihr Kartenhaus zusammen. Sie ist erschüttert und gleichzeitig so erleichtert: „Ich habe mich tausendfach bedankt, weil ich endlich wusste, was mein Thema ist, woran ich arbeiten kann.“ Es ärgere sie bis heute, dass sie so lange darauf warten musste. Jetzt, wo sie es weiß, sucht sie nach ihrem genetischen Vater. Um endlich eine Antwort auf die Frage zu bekommen, die sie sich schon ihr Leben lang stellt: Wo komme ich her?
Essener Spenderkind: „Ich will wissen, wo ich herkomme“
Martina wuchs auf, wie andere Kinder auch: mit Mama und Papa, den Großeltern und den zwei jüngeren Geschwistern in einem Dorf nahe Osnabrück. Sie hatten einen Hof mit Hühnern und Schweinen, am Wochenende machte der Vater mit den Kindern Ausflüge. Die Geschwister waren immer schon sehr unterschiedlich, im Charakter wie im Aussehen. Martina ist groß, mit ihren 1,84 größer als beide Eltern. Sie ist gut in Mathe, spielt Gitarre und tanzt. „Ich war immer eher die Ruhige, die Beobachterin, sehr sensibel.“ Dass sie gerne diskutiert und hinterfragt, ist bei der Familie nie so gut angekommen. „Ich habe den Fehler bei mir gesucht: Warum bin ich so anders?“
Wie Martina sind auch ihre Geschwister durch Fremdsamen gezeugt worden. Ein oder zweimal wäre es fast aufgeflogen, als sie in der Schule Blutgruppen durchnahmen. Da wurden sie neugierig, aber die Mutter behauptete, ihre nicht zu kennen. „An ihrer Stelle hätte ich auch Angst gehabt“, sagt Martina, „wenn mir ein Mann im weißen Kittel eingetrichtert hätte: Sagen Sie es Ihren Kindern nie, weil sie eh keine Chance haben, Antworten zu bekommen.“ Es sei auch sehr darum gegangen, den Schein zu wahren und den Vater zu schützen. Als alles herauskam, versicherte Martina ihm: „Du bist und bleibst mein Papa.“ Aber ihr war bewusst: „Natürlich bin ich neugierig. Ich will wissen, woher ich komme.“
Suche nach dem leiblichen Vater gestaltet sich schwierig
„Als Spenderkind bin ich im Konflikt“, fasst Martina ihre innere Zerrissenheit in Worte. „Auf der einen Seite möchte ich an die Öffentlichkeit gehen, meinen Vater finden. Auf der anderen Seite will ich meinen sozialen Vater nicht verletzen.“ Seit sie selbst Mutter ist, könne sie sich besser vorstellen, welcher Schmerz damit verbunden sein muss, wenn das Kind, das man mit Liebe und Hingabe großgezogen hat, sich plötzlich nach einem anderen Elternteil umsieht. Mit der Hilfe eines Bekannten habe sie gelernt, zu kommunizieren, dass es bei der Suche nach ihrem genetischen Vater um sie geht. Um ihre Identität. „Ich möchte wissen, von wem ich abstamme.“
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Wie sie entstanden ist, erzählt sie offen. „Das ist die einzige Möglichkeit, irgendwie weiterzukommen.“ Sie gibt Interviews in Zeitung und Radio, hat DNA-Tests bei allen großen, weltweit vernetzten DNA-Datenbanken gemacht, um den Mann zu finden, durch den sie entstanden ist. Bisher ohne Erfolg. Seit zwei Jahren klagt sie gegen den Arzt, der damals ihre Mutter mit Fremdsamen versorgt hat. Sie und mehrere andere Spenderkinder fordern die Herausgabe von Spenderunterlagen aus den 80er-Jahren. In einem Interview von 2008 in der Süddeutschen Zeitung hatte der Reproduktionsmediziner aus dem Ruhrgebiet erklärt, nur Auskunft zu geben, wenn ein Gericht ihn dazu zwinge. Ihren Prozess vor dem Amtsgericht hat Martina gewonnen, eine Berufung der Gegenseite lehnte das Gericht ab. Auskünfte zur Identität ihres genetischen Vaters hat Martina immer noch nicht erhalten. Das Verfahren zieht sich in die Länge.
Unter dem Samenspenderregistergesetz, das 2018 in Kraft getreten ist, wäre das heute nicht mehr möglich. Das Gesetz regelt die Rechten und Pflichten der Spender, Eltern und Kinder. Seit Juli 2018 entstandene Spenderkinder können zentral beim zuständigen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) Auskunft über ihren leiblichen Vater erhalten. Die Daten werden fortan 110 Jahre lang zentral gespeichert.
Betroffene berät im Verein Spenderkinder auch Wunscheltern
Seit einem Jahr engagiert sich Martina im Verein Spenderkinder. Im Austausch mit anderen Betroffenen fühlt sie sich verstanden. Und sie versteht auch die Perspektive der Wunscheltern, die sie manchmal berät. Wie es sich anfühlt, wenn ein Kinderwunsch einige Zeit unerfüllt bleibt, weiß sie aus eigener Erfahrung. Aber sie betont: „Es ist immer der Wunsch der Eltern. Die wenigsten fragen sich: Wie fühlt das Kind hinterher?“ Eltern, die sich vor einer Samenvermittlung an den Verein wenden, um die Perspektive eines Spenderkindes zu hören, rät Martina: „Macht euch bewusst, dass ihr einen Dritten mit ins Boot holt. Dieser Mann ist zwar unsichtbar, aber er ist da, als Teil des Kindes.“
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In dem Haus, in dem die 36-Jährige heute mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn lebt, gibt es genau einen Spiegel. Den nutzt sie morgens, ansonsten schaut sie selten hinein. „Seit ich weiß, wie ich entstanden bin, ist es besser geworden“, sagt Martina. Sie fühle sich selbstbewusster, sei innerlich ruhiger geworden. Zumindest weiß sie, dass sie ihrem Gefühl trauen kann, aber sie wünscht sich trotzdem, den Menschen zu finden, von dem sie den ein oder anderen Wesenszug geerbt hat. Damit sie irgendwann in den Spiegel blicken und sagen kann: „Schau mal, das hast du von ihm.“
Martina bittet Männer, die in den 80er-Jahren Samen gespendet haben und als ihr genetischer Vater in Frage kommen, sich per E-Mail an martoena@gmx.de bei ihr zu melden.
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