Essen/Dortmund. Ein Engel im Erdgeschoss, vom Vermieter zum Großvater – über wiederentdeckte Verbundenheit zu den Nachbarn während der Corona-Krise.

Lisa macht neuerdings in Holz. Eine Hütte und eine Treppe für den Garten habe sie während der Pandemie schon gemeinsam mit Reiner gebaut, erzählt die 29-jährige Dortmunderin. Reiner, Anfang 60, wohnt nebenan und ist ihr Vermieter. Lisa sagt: „Ohne Corona wäre das wohl nicht passiert. Er ist jetzt wie mein Opa.“

Nachbarschaften. Früher überlebenswichtig, dann missbraucht zur Kontrolle durch ganz Rechte wie ganz Linke, bevor Globalisierung, technologischer Wandel und die ständigen Veränderungen in allen Lebensbereichen die gewohnten Strukturen vielerorts auflösten. Frau und Mann von nebenan, oft nur noch ein Ziel von Gespött. Liebe deinen Nachbarn, reiß aber den Zaun nicht ein. Ja, ja. Und jetzt? Ist die Krise Dauerzustand. Bankenkrise. Coronakrise. Mentale Paralyse. Doch plötzlich geht etwas in den Hausfluren der Republik, schüchtern schiebt sich zwischen Bohnerwachs und Spießigkeit ein „Wie geht es dir?“ Erleben Nachbarschaften eine Renaissance?

Nachbarschaft in Dortmund: Vom Vermieter zum Großvater

Lisa bejaht. Sie sei eigentlich nie der extrovertierte Typ gewesen. Kontakte zur Nachbarschaft? Fehlanzeige. Doch das Haus, in das die studierte Kommunikationsdesignerin 2019 zieht, nimmt die Frau herzlich auf. „Wie eine Familie – das kannte ich vorher nicht.“ Und dann kommt die Pandemie. Lisa fährt ihre Kontakte herunter und sieht kaum noch Menschen. Mal flüchtige, oft intensive Begegnungen mit Reiner, Pia und den anderen lassen sie nicht sozial verhungern.

Wenn die Balkon-Brüstung keine Grenze mehr darstellt: Die Nachbarinnen Lisa (unten) und Pia im Gespräch. Seit der Corona-Pandemieist der Kontakt in der Dortmunder Hausgemeinschaft enger geworden.
Wenn die Balkon-Brüstung keine Grenze mehr darstellt: Die Nachbarinnen Lisa (unten) und Pia im Gespräch. Seit der Corona-Pandemieist der Kontakt in der Dortmunder Hausgemeinschaft enger geworden. © FUNKE Foto Services | Kim Kanert

Gerade mit ihrem Vermieter ist Lisa auf einer Gartenlänge, sie machen das Handwerken zu ihrem „Corona-Hobby“. Dabei habe sie zunächst Vorurteile gehabt. Ein älterer Mann, alleine, zurückgezogen. Doch die verschwinden schnell. Sie erzählt von ihren Plänen, sich ab Sommer zur Veranstaltungskauffrau ausbilden zu lassen. Er erzählt von seinem Beitrag für ein unfallfreies Rückwärtsfahren mit dem Auto dank piepsender Sensoren. Und aus Lisa bricht es ganz begeistert hervor: „Der ist eigentlich voll das Genie, von ihm kann ich noch so viel lernen.“

vhw-Soziologin Becker: keine generelle Renaissance

Zurück zur Wiederbelebung des Zusammenlebens – und damit zum Bundesverband Wohnen und Stadtentwicklung (vhw). Anna Becker sieht keine generelle Renaissance von Nachbarschaften, die Sozialwissenschaftlerin und diplomierte Stadtplanerin erkennt aber grobe Trends zu mehr Miteinander statt Aneinander vorbei.

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Sie verweist auf zwei Entwicklungen: Globale Krisen schürten Verunsicherung und führten zu Ohnmacht. „Die Menschen haben ein Bedürfnis nach Sicherheit und Vertrauen, was sie in nahräumlichen Beziehungen und im Lokalen suchen. Dort wollen sie im Kleinen dazu beitragen, den großen Krisen zu begegnen.“ Dazu spiele der demografische Wandel eine Rolle. Ältere Menschen wären auf Kontakte und Solidarität wie die aktuellen Einkaufshilfen angewiesen, ebenso wie viele Alleinlebende würden sie Nachbarschaften als eine zusätzliche Ressource begreifen.

Flüchtige Begegnungen stärken Krisenresilienz in der Corona-Pandemie

Eine Ressource, die man beim Bundesverband in der Extremsituation Pandemie für viele Menschen als „beinahe existenziell“ beschreibt. Anna Becker: „Die flüchtigen Begegnungen, dieses Sehen und Wahrgenommen werden, tragen dazu bei, dass man sich sicher und aufgehoben fühlt. Das wiederum stärkt die Krisenresilienz.“ Sie verweist außerdem auf Studien wie etwa aus dem chinesischen Wuhan. Demnach hat allein das Wissen um mögliche Hilfe die mentale Gesundheit verbessert und die psychischen Folgewirkungen der Pandemie abgemildert.

Nachbarschaftsplattform nebenan.de wächst im Ruhrgebiet

Das nach eigenen Angaben größte soziale Netzwerk für Nachbarn in Deutschland hat bundesweit knapp 1,7 Millionen aktive Nutzerinnen und Nutzer. Die Corona-Pandemie bescherte dem 2015 als Sozialunternehmen gegründeten nebenan.de in der Region weiteren Zuwachs. 28.000 aktive Nutzende zählt die Plattform in Dortmund (plus 5000 im Vergleich zu Anfang 2020), in Essen und Duisburg sind es 26.000 (+ 5000) bzw. 15.000 (+ 3000) Menschen, die sich online kennenlernen, Hilfe verabreden oder miteinander handeln.

Seinen Beitrag leistet auch der digitale Raum. Zoom-Weinproben simulieren immerhin Gemeinschaft, das Vermitteln alter Kinderbücher über Nachbarschaftsnetzwerke führt zu Gefühlsausbrüchen. Ich helfe, der Nachwuchs strahlt, alle happy. Becker nennt Plattformen wie nebenan.de deshalb eine zentrale Ergänzung, um Kontakte herzustellen, aufrecht zu erhalten und analoge Treffen vorzubereiten. Womit Claudia ins Spiel kommt.

Toilettenpapier für alle: Nachbarschaft in Essen wirkt

Ein Reihenhaus im beschaulichen Essen-Frohnhausen, Erdgeschoss, Küchentisch. Die Hände der Fachkrankenschwester am Uniklinikum Essen wirbeln durch die Luft, um den Sätzen über Nachbarschaften on- und offline mehr Nachdruck zu verleihen. „Ich finde es total wichtig zu wissen, wer neben einem wohnt. Es ist ein Gefühl der Sicherheit, im Notfall zu jeder Tages- und Nachtzeit bei den Nachbarn klingeln zu können.“ Durch die Pandemie sei die Hausgemeinschaft sowieso noch mehr zusammengeschweißt worden, weshalb sich Claudia auch gerne eingesetzt habe. Toilettenpapier, Mehl oder Hefe zum Backen – im blauen Eckhaus hat nie Mangel geherrscht.

Claudia aus Essen-Frohnhausen: „Ich finde es total wichtig zu wissen, wer neben einem wohnt.“
Claudia aus Essen-Frohnhausen: „Ich finde es total wichtig zu wissen, wer neben einem wohnt.“ © Unbekannt | Bastian Rosenkranz

Die 54-Jährige, mit weißem Kopftuch, blauer Strickjacke und jeder Menge Energie für ihre Mitmenschen („nur die Zeit am Tag reicht nicht“) wirkt mit ihrem Engagement über die Zwölf-Parteien-Gemeinschaft hinaus. Ein bisschen wie der Engel von Frohnhausen – übrigens auch bei nebenan.de! Dort frage sie nach Garn für selbstgenähte Masken oder einer Schreibtischlampe für ihr elfjähriges Pflegekind Lukas. Selbst Brillen, Kopfhörer und Zeitschriften für die isolierten Patientinnen und Patienten auf der Covid-Station habe sie schon über die Plattform gesammelt. „Und wenn es passt, dann bleibst du in Kontakt“, sagt Claudia. Das Beste aus beiden Welten – zusammengebracht.

Anna Becker sieht Nachholbedarf – vor Ort und digital

Beim Abschied kommt Katia die Treppe herunter, wie Claudia alleinerziehende Mutter und mit ihrer Tochter Ida die erste Ansprechpartnerin in der Nachbarschaft. Ein kurzes Klönen am Briefkasten, das nächste Treffen im kleinen Innenhof ist ausgemacht.

Doch was ist, wenn es keinen Innenhof gibt? Wenn Orte der Begegnung fehlen? Wenn schlechtes WLAN, endliches Datenvolumen oder mangelhafte digitale Kompetenz ein Vernetzen auf Plattformen verhindert?

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Anna Becker vom vhw sieht Investitionsbedarf, um Ressourcenschwächeren unter die Arme zu greifen. Nachbarschaftshäuser, Community-Center, Orte für Initiativen: Dafür gebe es in Deutschland zu wenige Förderprogramme. Dabei sei „die Gemeinwesenarbeit zentraler denn je – durch die Pandemie aber auch schwieriger denn je“. Die Schnittstelle von Digitalem und Lokalem wäre ebenfalls sehr relevant, hier vermisst Becker einen Gegenpart zu privatwirtschaftlichen Netzwerken wie Facebook.

Nachbarschafts-Vernetzerin Claudia sieht darin keine unüberwindbaren Hindernisse: „Es ist toll, was heutzutage alles möglich ist – man muss es nur machen.“