Essen. Die Stimmung in der Ruhrwirtschaft ist schlecht - vor allem im Handel und in der Industrie. IHK-Umfrage mit überraschenden Ergebnissen.

Die Stimmung in der Ruhrwirtschaft ist auf einem Tiefpunkt. Die sechs Industrie- und Handelskammern der Region sehen die Deindustrialisierung in vollem Gange. Ihrer Frühjahrsumfrage zufolge steckt aber nicht nur die Industrie in einer tiefen Krise, sondern auch der Einzelhandel.

Es war im Dezember 2024, als die Essener IHK-Präsidentin Jutta Kruft-Lohrengel einen Weckruf an ihre Unternehmer-Kollegen anstimmte. „Wir kommen nicht weiter, wenn wir auf Pessimismus verharren. Es ist an uns, aus diesem ,Liegestuhl‘ rauszukommen. Wir dürfen nicht warten, bis uns die Entwicklungen überholen“, sagte die Eigentümerin eines BMW-Autohauses in Oberhausen. Seither hat sich die Stimmung nicht nur in der Ruhrwirtschaft weiter verschlechtert. Bundesweit hatten Firmen und Verbände am 29. Januar zum „Warntag“ gegen die Politik aufgerufen.

Stimmung in der Ruhrwirtschaft auf dem Tiefpunkt

Der Frust der Unternehmen schlägt sich auch in der Frühjahrsumfrage der Ruhr-IHKs nieder. Mit 92,7 Punkten fiel der Konjunkturklimaindex noch einmal schlechter aus als zum Jahresbeginn 2024. „Bundesweit schrillen die Alarmglocken der Wirtschaft“, sagt am Dienstag, 4. Februar, die IHK-Präsidentin Kruft-Lohrengel bei der Vorstellung des Ruhrlageberichts. „Wir verharren im Stimmungstief.“ Aus der Umfrage bei rund 780 Unternehmen aus dem Ruhrgebiet mit mehr als 92.000 Beschäftigten wissen die Kammern, wo der Ruhrwirtschaft der Schuh am schmerzhaftesten drückt.

Es ist vor allem die Unzufriedenheit mit der Politik. 62 Prozent der befragten Firmen sehen hier den größten Unsicherheitsfaktor für ihre wirtschaftliche Entwicklung. Konkret kritisieren sie „fehlende Planbarkeit, politischen Stillstand, überbordende Bürokratie, mangelnde Stabilität sowie unklare Rahmenbedingungen“.

Kerstin Groß ist Hauptgeschäftsführerin der IHK für Essen, Oberhausen und Mülheim. Sie ruft zur „Reindustrialisierung“ auf
Kerstin Groß ist Hauptgeschäftsführerin der IHK für Essen, Oberhausen und Mülheim. Sie ruft zur „Reindustrialisierung“ auf © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Dennoch bleibt die couragierte Unternehmerin aus Oberhausen bei ihrer Haltung, dass die Wirtschaft allein mit der Hilfe der Politik nicht aus der Krise komme. „Ich muss Selbstverantwortung übernehmen, mir kann nicht nur von außen geholfen werden. Der Staat wird es nicht richten, wir müssen es richten“, sagt Kruft-Lohrengel und versprüht trotz des schlechten Stimmungsbilds in der Ruhrwirtschaft Optimismus. „Es gibt viele engagierte und hart arbeitende Unternehmer“, erklärt die IHK-Präsidentin. „Unsere Unternehmen sind in Lauerstellung. Ist der Knoten erstmal geplatzt, werden wir da sein – als Mutmacher für Nordrhein-Westfalen und damit auch in ganz Deutschland.“

Auf dem langen Weg dorthin liegt allerdings mehr als die Bundestagswahl am 23. Februar, von der sich die Ruhrwirtschaft ein Aufbruch-Signal verspricht. Kerstin Groß, Hauptgeschäftsführerin der Essener IHK, schreckt die große Unzufriedenheit in der Unternehmerschaft auf. „Dass unsere Wirtschaft die politischen Rahmenbedingungen als großes Risiko wahrnimmt, ist ein eindringliches Warnsignal“, sagt sie. „Die Unternehmen brauchen mehr Beinfreiheit, um erfolgreich zu sein. Dazu muss ein echter, spürbarer Ruck mit sofortiger Umsetzung und Änderung der aktuellen Rahmenbedingungen erfolgen.“ Zeit zum Warten habe die Wirtschaft nicht mehr.

Der Einzelhandel leidet am stärksten unter der Krise

Unter der Krise leidet der Umfrage zufolge am meisten der Einzelhandel. Wie bereits im Vorjahr sei hier die Stimmung am schlechtesten. Nur 14 Prozent der befragten Händler sind mit ihrer aktuellen Geschäftslage zufrieden. Knapp ein Drittel bewertet sie als schlecht - das sind noch einmal sechs Prozent mehr als im mauen Frühjahr 2024. „Nur jedes zehnte Unternehmen ist optimistisch“, heißt es im Ruhrlagebericht. 67 Prozent machen die schwache Inlandsnachfrage für die Misere verantwortlich.

Stefan Dietzfelbinger ist Hauptgeschäftsführer der Niederrheinischen IHK. Er sorgt sich um die Stahlkrise bei Thyssenkrupp in Duisburg.
Stefan Dietzfelbinger ist Hauptgeschäftsführer der Niederrheinischen IHK. Er sorgt sich um die Stahlkrise bei Thyssenkrupp in Duisburg. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Nicht viel besser sieht es bei den produzierenden Unternehmen im Ruhrgebiet aus. Nur 19 Prozent bezeichnen ihre Lage als gut. Vor einem Jahr waren es 29 Prozent. 27 Prozent sprechen von einer schlechten Situation - vier Prozent mehr als vor zwölf Monaten. Immerhin haben 60 Prozent „stabile Geschäftserwartungen“. Und das, obwohl die Unzufriedenheit mit der Politik in der Ruhr-Industrie im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen am höchsten ist. Sie leidet vor allem unter hohen Preisen für Energie und Rohstoffe und einer geringen Inlandsnachfrage.

Die Essener IHK-Managerin Kerstin Groß ruft angesichts der wachsenden Zahl von Unternehmen, die das Ruhrgebiet verlassen, dazu auf, den Blick nach vorn richten, spricht von einer „Reindustrialisierung“ und fordert: „Wir als Standort müssen für neue Produktionen attraktiv werden.“ Ihr Amtskollege Stefan Dietzfelbinger von der Niederrheinischen IHK hat angesichts der Stahlkrise, die vor allem Duisburg mit voller Wucht trifft, einen etwas anderen Blick auf die Lage. „Die bestehende Industrie muss die aktuelle Krise erst einmal überleben“, erklärt er. Viele Mittelständler investierten inzwischen lieber im Ausland. Die 11.000 Arbeitsplätze, die Thyssenkrupp Steel abbauen oder auslagern will seien deshalb „nur die Spitze des Eisbergs“.

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Die Deindustrialisierung kann nach Dietzfelbingers Überzeugung nur gestoppt werden, wenn die Energiepreise sinken - „und zwar sofort“. Laut Frühjahrsumfrage will jeder fünfte Betrieb im Ruhrgebiet Stellen abbauen - im Industriesektor ist es sogar jeder vierte.

Am besten steht die Dienstleistungsbranche im Ruhrgebiet da. 18 Prozent der Unternehmen erwarten eine bessere geschäftliche Lage, 30 Prozent bezeichnen den Status quo als gut. Den hiesigen Versicherungsunternehmen scheint es besonders gut zu gehen, während die Gastronomie darbt.

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