Essen. Krupp-Nachfahre Friedrich von Bohlen und Halbach fordert Reformen in Deutschland und warnt vor einem „Totalschaden“ von Thyssenkrupp.

Friedrich von Bohlen und Halbach, ein Enkel der einstigen Krupp-Firmeneigentümerin Bertha Krupp, hat jahrelang zu den schärfsten Kritikern der Thyssenkrupp-Großaktionärin Krupp-Stiftung gehört. Nun äußert sich der Krupp-Nachfahre überraschend zustimmend zum Kurs der Stiftung, die als treibende Kraft beim geplanten Umbau des Essener Stahl- und Industriegüterkonzerns gilt. Friedrich von Bohlen und Halbach, der privat noch einige Thyssenkrupp-Aktien besitzt, ist seit vielen Jahren fernab der Stahlwelt als Unternehmer tätig. In Heidelberg führt der 62-Jährige das Digital- und Medizintechnologie-Unternehmen Molecular Health. Deutschlands Wirtschaft sieht Friedrich von Bohlen und Halbach aktuell an einem Wendepunkt. „Im Kern geht es um die Frage, ob es uns gelingt, unsere freiheitliche Grund- und Werteordnung zu verteidigen“, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion.

Sie sind Unternehmer, schalten sich aber immer wieder auch in gesellschaftliche und politische Debatten ein. Ist es jetzt, wenige Wochen vor der Bundestagswahl, besonders wichtig, dass auch Akteure der Wirtschaft zu Wort kommen?

Friedrich von Bohlen und Halbach: Wir stehen nicht nur vor einer Bundestagswahl, sondern auch inmitten einer globalen Neuordnung. Im Kern geht es um die Frage, ob es uns gelingt, unsere freiheitliche Grund- und Werteordnung zu verteidigen. Dafür müssen sich Deutschland und Europa weiterentwickeln. Es gibt einen globalen Wettbewerb der Systeme, in dem wir eine aktive Rolle wahrnehmen müssen. Der Wirtschaft kommt dabei eine zentrale Funktion zu. Sie ermöglicht nicht nur Arbeitsplätze und Einkommen, sondern auch Verteidigungsfähigkeit, Unabhängigkeit und gestalterischen Spielraum.

Derzeit dominiert, wie es scheint, die Machtpolitik. In den USA tritt Donald Trump an, mit dem Anspruch, Amerika „wieder groß zu machen“. Russlands Präsident Wladimir Putin hat einen brutalen Angriffskrieg angezettelt. Der chinesische Staatschef Xi Jinping will seinen globalen Einfluss ausbauen. Welche Rolle sollte Deutschland nach Ihrer Ansicht spielen?

Friedrich von Bohlen und Halbach: Deutschland muss ein neues Selbstvertrauen in und mit Europa entwickeln, um sich international behaupten und unsere Werte schützen zu können. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist unsere Wirtschaft mehr als doppelt so stark wie die russische. Und Europa hat mehr Einwohner als die USA. Aber wir machen viel zu wenig aus unseren Stärken. Es gibt weltweit enorme Chancen und Zukunftsfelder durch technologische Veränderungen, doch Deutschland läuft weit hinterher. Dabei haben wir vieles, was andere nicht haben. Aber wir haben keine klaren Ziele und sind stattdessen zu einer Wohlfühloase abgeglitten.

Wo sehen Sie die Ursachen?

Friedrich von Bohlen und Halbach: Politik und auch Teile der Industrie haben sich einlullen lassen von vergangenen Erfolgen, die ironischerweise zu einem guten Teil auf billigen Energielieferungen aus Russland beruhten. Der Publizist und Politiker Otto von Habsburg erkannte dies bereits 2005 und merkte an, dass die freien Länder Europas ihre Politik dereinst teuer werden bezahlen müssen. Jetzt sind wir in dieser neuen Realität und werden auf vieles verzichten und einiges ändern müssen, wenn wir unsere Identität und Unabhängigkeit behalten wollen.

„Menschen haben Angst um ihren Arbeitsplatz und Wohlstand“

Befürchten Sie, dass Deutschlands Wirtschaft den Anschluss verliert?

Friedrich von Bohlen und Halbach: Hat sie schon. Ich bin zutiefst entsetzt darüber, wie sehr wir uns in Deutschland an den Kernthemen vorbeiorientieren. Wir sind in unseren Parade-Branchen wie der Automobil-, und Stahlindustrie, aber auch Chemie und Pharma, worin ich mich besser auskenne, weit in die Defensive geraten. Die Menschen haben Angst um ihren Arbeitsplatz und Wohlstand.

Wie könnte es denn Ihrer Meinung nach besser laufen?

Friedrich von Bohlen und Halbach: Anstatt steuerliche Mittel, die ohnehin knapp sind, breit und überbürokratisiert in alle möglichen Lücken zu stecken, um vermeintlich jedem einen Gefallen zu tun, muss Deutschland klare Ziele und Zukunftsfelder definieren, auf Wachstum und Stärke setzen und viel attraktiver für Investitionen werden. Geld ist global jede Menge vorhanden, aber es fließt zu selten nach Deutschland. Das muss sich ändern, damit wir zurück auf die Erfolgsspur kommen.

In der Ära von Schröder und Merkel „dem süßen Gift billiger russischer Energie hingegeben“

Wo sehen Sie die größten Fehler – bei den jeweiligen Bundesregierungen oder in der Wirtschaft?

Friedrich von Bohlen und Halbach: Bei beiden. Sowohl die damaligen Kanzler Schröder und Merkel als auch die Chefs großer deutscher Energiekonzerne haben sich dem süßen Gift billiger russischer Energie hingegeben und uns damit abhängig gemacht. Die Autoindustrie hat zu langsam auf die neuen Mobilitäts-Themen und -Konzepte reagiert. Das Gesundheitssystem hat vorerst die Digitalisierung verpasst, und die Pharmabranche innoviert vor allem in den USA.

Vermissen Sie Veränderungsbereitschaft?

Friedrich von Bohlen und Halbach: Absolut. Die Zukunft ist aus dem Blick geraten. Eine dafür unverzichtbare umfassende Digitalisierung sowie die Sicherung unserer Freiheit und Unabhängigkeit wurden in meinen Augen unverantwortlich vernachlässigt oder arrogant zerredet. Anstatt sich Gedanken um Steuerwachstum durch Standortattraktivität zu machen, sind Steuern, Bürokratie und Belastungen einfach ständig erhöht worden. Das ist dumm und feige. Dumm, weil es allen schadet, und feige, weil es der richtigen Diskussion ausweicht.

Friedrich von Bohlen und Halbach: „Befinden uns an einem zentralen Wendepunkt“

Sie wollen einen Weckruf formulieren?

Friedrich von Bohlen und Halbach: Wir befinden uns an einem zentralen Wendepunkt. Mit dem Angriff auf die Ukraine und der Kehrtwende in der Energiepolitik passieren jetzt gleichzeitig drei Dinge: Unsere klassischen Industrien verlieren an Wettbewerbsfähigkeit, Steuereinnahmen sinken, und die Notwendigkeit für mehr Investitionen in unsere Sicherheit ist massiv gestiegen. Das bedeutet im Klartext auch: Es gibt weniger zu verteilen. Das ist höchst unpopulär und treibt verängstigte und frustrierte Wähler, die all das nicht verstehen wollen oder durchschauen können, in die Arme extremer Parteien. Und beide, AfD und BSW, wollen auch noch den Austritt aus der NATO und die Annäherung an Russland – ein Land, das uns demontieren und unsere Freiheit und unseren Wohlstand nehmen möchte.

Glauben Sie, mit der Botschaft, dass Menschen auf Sozialleistungen verzichten und womöglich härter arbeiten sollen, lassen sich Wahlen gewinnen?

Friedrich von Bohlen und Halbach: Ja. Eine klare und ehrliche Situationsanalyse sollte der Anfang jedes Wahlprogramms sein. Wenn die Wirtschaft schwächelt und mehr Steuergelder in die Verteidigung fließen müssen, helfen Märchen von einem ewigen Frieden und naiver Umverteilungsromantik nicht weiter. Das wäre unehrlich und manipulativ. Die nächste Bundesregierung muss mehr „Blut, Schweiß und Tränen“ wagen, und muss Vertrauen in die Zukunft schaffen, indem klar und verständlich gesagt wird, wie diese Zukunft aussehen soll.

Viele Menschen sehen aber auch, dass der Reichtum der Vermögenden wächst, während der hart arbeitenden Mittel- und Unterschicht viel abverlangt wird.

Friedrich von Bohlen und Halbach: Um es klar zu sagen: Die Steuereinnahmen werden nicht nachhaltig wachsen, indem man Milliardäre oder Kapitalerträge höher besteuert. Im Gegenteil: Das wird Steuereinnahmen vermindern und die Staatsquote noch mehr erhöhen, weil Investoren Deutschland dann noch stärker als heute schon meiden werden. Damit würde Geld für Zukunftsbranchen fehlen – und letztlich auch für Sozialausgaben.

„Apple, Amazon, Microsoft und Nvidia jeder für sich in etwa so viel Wert wie der gesamte DAX 40“

Machen es andere Länder aus Ihrer Sicht besser als Deutschland?

Friedrich von Bohlen und Halbach: Die allesamt nach 1970 gegründeten US-Konzerne Apple, Amazon, Microsoft und Nvidia sind jeder für sich in etwa so viel Wert wie der gesamte DAX 40. Meine Lehre daraus ist: Investitionen müssen attraktiver werden, indem Deutschland Kapitalertragssteuern senkt oder – wie zum Beispiel die Schweiz – für einige Jahre deutlich begünstigt. Und attraktive Rahmenbedingungen für Eigenkapital schafft.

Viele Regierungen verlassen sich aber nicht nur auf das freie Wirken der Wirtschaft, sondern setzen selbst Akzente.

Friedrich von Bohlen und Halbach: Ich bin gegen Subventionen, aber Freund staatlicher Fonds wie zum Beispiel in Norwegen und Singapur, die Investitionen im Land auf konkrete Industrien und Zukunftsfelder konzentrieren. Wichtig ist, dass solche Fonds von Profis gemanagt werden, nicht von Politikern.

Friedrich von Bohlen und Halbach (Bildmitte) Anfang 2023 in der Villa Hügel im Kreise von Familienmitgliedern (von rechts nach links): Anna von Bohlen und Halbach (Ehefrau von Friedrich von Bohlen), Harald Friz (Sohn von Diana Friz, Diana Friz ist Tochter von Waldtraut von Bohlen und Halbach), Friederike von Waldthausen und Horst von Waldthausen (Enkel von Barbara, geborene Krupp).
Friedrich von Bohlen und Halbach (Bildmitte) Anfang 2023 in der Villa Hügel im Kreise von Familienmitgliedern (von rechts nach links): Anna von Bohlen und Halbach (Ehefrau von Friedrich von Bohlen), Harald Friz (Sohn von Diana Friz, Diana Friz ist Tochter von Waldtraut von Bohlen und Halbach), Friederike von Waldthausen und Horst von Waldthausen (Enkel von Barbara, geborene Krupp).

Sie sind Enkel der einstigen Krupp-Firmeneigentümerin Bertha Krupp und Neffe des letzten Alleininhabers des Essener Stahlkonzerns, Alfried Krupp von Bohlen und Halbach. Wie blicken Sie als Krupp-Nachfahre auf die aktuelle Lage des Unternehmens Thyssenkrupp?

Friedrich von Bohlen und Halbach: Ich bin besorgt, in gewisser Weise aber auch optimistisch. Dass Thyssenkrupp in besonderer Weise unter den hohen Energiepreisen leidet, ist kaum verwunderlich. Das Management kann nicht tatenlos zusehen, wenn der Konzern fortgesetzt Verluste schreibt. Und es ist bitter, mitansehen zu müssen, wie die Beschäftigten nun die Leidtragenden von Fehlern der Vergangenheit sind. Für mich ist aber auch klar: Stahl wird es immer geben, und das Stahlgeschäft war immer schon zyklisch.

Aber die Stahlindustrie gehört zu den Branchen mit einem enorm hohen Ausstoß des Klimagases CO2.

Friedrich von Bohlen und Halbach: Daher glaube ich auch, dass klimafreundlicher grüner Stahl der richtige Weg ist. Der Konzern sollte sich aber auch über den Stahl hinaus in andere Werkstoff- und Technologiekompetenzen weiterentwickeln. Wenn Branchen wie Stahl und Automobil schrumpfen, müssen die Unternehmen aus ihren Kernkompetenzen neue Produkte entwickeln.

Ist Thyssenkrupp da beispielhaft für den Standort Deutschland?

Friedrich von Bohlen und Halbach: Innovationen, sowohl aufeinander aufbauende als auch Sprunginnovationen, sind der Schlüssel für Wachstum, Wohlstand und Freiheit. Diese Erkenntnis und die Konsequenzen daraus haben wir viel zu lange vernachlässigt. Das ist in meinen Augen die Unterlassungssünde der Ära Schröder und Merkel.

Sorge um Thyssenkrupp: „Ein Totalschaden des Konzerns wäre das Schlimmste für alle“

Aktuell ist Thyssenkrupp geprägt von einem Gegeneinander der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. Wie soll in einer solchen Gemengelage Aufbruchstimmung entstehen?

Friedrich von Bohlen und Halbach: Ich hoffe sehr, dass bald ein Ausgleich der Interessen entstehen kann. In der Geschichte des Unternehmens hat es schon viele Konflikte gegeben, letztlich haben sich die Beteiligten dann doch zusammengerauft. Ich erkenne Realismus und unternehmerische Sachorientiertheit. Ein Totalschaden des Konzerns wäre das Schlimmste für alle, vor allem für die Arbeitnehmer und das Ruhrgebiet.

Sie führen die Thyssenkrupp-Großaktionärin Krupp-Stiftung: Kuratoriumschefin Ursula Gather und Vorstandssprecher Volker Troche, hier in der Villa Hügel in Essen.
Sie führen die Thyssenkrupp-Großaktionärin Krupp-Stiftung: Kuratoriumschefin Ursula Gather und Vorstandssprecher Volker Troche, hier in der Villa Hügel in Essen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Sie haben jahrelang zu den schärfsten Kritikern der Thyssenkrupp-Großaktionärin Krupp-Stiftung gehört – nicht nur zu Zeiten des Konzernpatriarchen Berthold Beitz, sondern auch während der aktuellen Amtszeit der Beitz-Nachfolgerin Ursula Gather und Vorstandssprecher Volker Troche.

Friedrich von Bohlen und Halbach: Nach wie vor bin ich davon überzeugt, dass Berthold Beitz für viele Fehlentwicklungen im Unternehmen verantwortlich ist. Auch er war nicht zukunftsorientiert oder innovativ. Meine Kritik danach galt einer für mich zu langsamen Veränderungskultur. Mit Ursula Gather und Volker Troche hatten wir einige sehr gute Gespräche, heute ist unser Verhältnis offen und vertrauensvoll. Beiden nehme ich ab, dass sie die richtigen Ziele haben und diese auch mit der notwendigen Empathie und Zielstrebigkeit verfolgen. Ich finde gut, was sie machen, und wie sie es machen. Es hilft doch niemandem weiter, wenn wir nur zurückblicken. Ich blicke lieber nach vorne – immer schon.

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