Essen. . Die Verbraucherorganisation Foodwatch beklagt massive Missstände in deutschen Ställen. Es werde systematisch gegen den Tierschutz verstoßen, sagte Foodwatch-Chef Thilo Bode im Interview mit der WAZ-Mediengruppe. Einzelmaßnahmen wie die Antibiotika-Datenbank in NRW reichten nicht aus.
Für die Verbraucherorganisation Foodwatch sind die jüngsten Skandale in der Tiermast nur der Beleg, dass etwas grundsätzlich schiefläuft. In deutschen Ställen werde systematisch gegen den Tierschutz verstoßen, sagte Foodwatch-Chef Thilo Bode im Interview mit der WAZ-Mediengruppe. In der Schweinemast würde laut Foodwatch Tieren flächendeckend die Ringelschwänze abgeschnitten oder Geflügel die Schnäbel gekürzt, „weil sich die Tiere aus Stress und Langeweile gegenseitig anknabbern“.
Todesfälle und Schlachthofbefunde seien eklatant, viele Krankheiten eine Folge der Haltung. Das Eindämmen von Antibiotika und anderen Medikamenten löse nicht das grundsätzliche Problem des flächendeckenden Einsatzes von Arzneimitteln in der Tierhaltung.
Bode und sein Stellvertreter Matthias Wolfschmidt forderten Landwirtschafts- und Verbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) zum Eingreifen auf. Die Sterblichkeit von Tieren müsse in den Betrieben erfasst und ausgewertet werden. Würden Vorgaben nicht erreicht, müssten die Behörden eingreifen. „Obwohl Tierschutz seit zehn Jahren als Staatsziel in unserer Verfassung steht, hat die Politik der Agrar-Lobby keine klare Vorgabe gemacht“, kritisierte Bode.
Herr Bode, NRW-Verbraucherminister Johannes Remmel fordert eine Antibiotika-Datenbank. Was halten Sie davon?
Bode: Es ist überfällig, dass die verabreichten Tierarzneimittel in einer Datenbank erfasst werden. Nur so können wir feststellen, in welchen landwirtschaftlichen Betrieben es welche Probleme gibt. Doch ich glaube nicht, dass härtere Sanktionen gegen Tierärzte, die zu viel verschreiben, das grundsätzliche Problem lösen.
Herr Wolfschmidt, Sie sind Tierarzt. Was sollte sich ändern?
Wolfschmidt: Alle Nutztiere müssen tiergerecht gehalten werden. Sie müssen artgerechtes Verhalten ausüben können und sie dürfen nicht in einem System gehalten werden, das sie krankmacht. Die Tiere werden zu schnell gemästet, haben zu wenig Platz, Stallhygiene und Management sind oft nicht gut genug. Behandlungszahlen, Todesfälle und Schlachthofbefunde sind eklatant. Obwohl Tierschutz seit zehn Jahren als Staatsziel in unserer Verfassung steht, hat die Politik der Agrar-Lobby keine klare Vorgabe gemacht.
Was hören Sie von Kollegen?
Wolfschmidt: Viele Krankheiten sind eine Folge der Zustände in der Tierhaltung. In der Schweinemast sind fast alle Gelenkserkrankungen darauf zurückzuführen. Innerhalb von sechs Monaten werden die Tiere auf ein Lebendgewicht von 100 Kilo gemästet. Da kommt das Skelett nicht mit.
Die Ställe sind schlicht überfüllt
Wie sieht es in Ställen aus?
Wolfschmidt: Die sind schlicht überfüllt. Bei Geflügel oder Schweinen ist daher Kannibalismus normal. Die Tiere knabbern sich aus Stress und Langeweile an. Deswegen werden nahezu flächendeckend bei Schweinen die Ringelschwänze abgeschnitten und bei Geflügel die Schnäbel gekürzt.
Ist das nicht eigentlich verboten?
Wolfschmidt: Ja. Aber es ist ausnahmsweise erlaubt, wenn kurzfristig eine Änderung der Haltung nicht möglich ist. Die angebliche Ausnahme ist aber leider der Standard. Alle Fachleute wissen: Es herrscht systematischer Rechtsbruch statt Tiergerechtigkeit. Die EU-Kommission müsste Deutschland verklagen. Sie tut es nicht, weil es in anderen EU-Staaten ähnlich schlimm ist.
Was sollte die Politik tun?
Wolfschmidt: Frau Aigner muss die verfassungsmäßigen Rechte der Nutztiere durchsetzen. Dazu muss sie zwei generelle Vorgaben machen: Jedes Nutztier muss in jedem Betrieb artgerechtes Verhalten zeigen können und darf nicht durch die Haltungsbedingungen krank gemacht werden. Tiergesundheit ist objektiv erfassbar. Behandlungsindizes, Sterblichkeit und Schlachthofbefunde müssen betriebsgenau ausgewertet werden. Werden die Benchmarks nicht erreicht, müssen die Behörden eingreifen.
Ist Massentierhaltung per se schlecht?
Wolfschmidt: Je mehr Tiere gehalten werden, desto komplexer sind natürlich die Anforderungen. Man kann kleine und große Tierherden gut oder schlecht halten. Krankheits- und Sterblichkeitsraten in größeren Haltungen müssen nicht zwangsläufig höher sein. Es kommt auf den einzelnen Betrieb an, wie krank er Tiere macht und wie gesund er sie hält.
Auch auf den Biohöfen ist es nicht besser
Auf Biohöfen leben Tiere also nicht automatisch besser?
Wolfschmidt: Leider nein. Zwar haben die Tiere bessere Möglichkeiten, sich artgerecht zu verhalten. Das allein reicht aber offenbar nicht aus, dass die Tiere nicht erkranken. Wirklich tiergerechte Haltung erfordert klare Vorgaben und Überwachungsmaßnahmen für Zucht, Haltung, Management, Transport und Schlachtung.
Will der Verbraucher nicht zu allererst billige Lebensmittel?
Bode: Wenn man die gesellschaftliche Debatte über Tierhaltung führen will, dann gehört diese Wahrheit dazu: Die Produktion von Eiern oder Fleisch wird teurer werden, will man Tieren zugestehen, dass sie nicht mehr so schnell wachsen müssen und artgerecht gehalten werden. Wir müssen die Qualität von Lebensmitteln sehr viel weiter fassen.
Was meinen Sie damit?
Bode: Zur Qualität der Lebensmittel gehören die Umweltauswirkungen und der Umgang mit Nutztieren. Schonung der Umwelt und Respekt vor Tieren kostet. Diese Kosten müssen sich im Preis, z.B. von Fleisch, niederschlagen. Das ist aber auch richtig – weil der Fleischverbrauch in Europa mit über 90 Kilo pro Kopf und Jahr viel zu hoch ist. Wir könnten gar nicht die ganze Welt ernähren, wenn wir alle so viel Fleisch essen.
Aber Lebensmittel müssen doch bezahlbar bleiben…
Bode: Natürlich. Das ist auch eine Frage der Sozialpolitik. In unserem Land, das immer reicher wird, muss jeder sein Menschenrecht auf Nahrung ausüben können.
Sehen Sie das denn gefährdet?
Bode: Ja. Studien des Forschungsinstituts Kinderernährung in Dortmund sagen: Bestimmte Altersgruppen von Unterstützungsempfängern, die Arbeitslosengeld II für Kinder und Jugendliche beziehen, haben nicht genug Geld, um sich ausgewogen und gesund zu ernähren. Für viele Menschen wird es noch schwerer, wenn Lebensmittel teurer würden. Das sind die unbequemen Wahrheiten, die wir den Bürgern sagen müssen.
Manch einer fühlt sich von Ihnen bevormundet.
Bode: Ehrliche Preise und Kostentransparenz sind keine Bevormundung. Wir haben gravierende gesellschaftliche Kosten durch Fehlernährung: Übergewicht und Fettleibigkeit, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes – auch schon bei Kindern. An den Börsen wird mit Lebensmitteln spekuliert. Wir müssen auch bei der Ernährung eine Wende einläuten, so wie wir dies aktuell mit unserem System der Energieversorgung tun.
Warum scheint uns das so schwer zu fallen?
Bode: Weil in der öffentlichen Debatte nach wie vor die Auffassung besteht: Verbraucher müssten einfach vernünftiger einkaufen, Bio zum Beispiel. Oder Fehlernährung sei eine Frage von Erziehung und Bildung. Das greift viel zu kurz.
Verbraucherministerium abspalten
Ministerin Aigner hat nach dem Dioxin-Skandal vor einem Jahr gesagt: Der Bund hat schnell und entschlossen gehandelt. Stimmt das?
Bode: Nein, das Entscheidende ist nicht passiert: Es wurde nicht verhindert, dass Dioxin überhaupt in die Lebensmittelkette gelangen kann. Das geht nur, indem künftig bei der Produktion von Futtermitteln alle Bestandteile auf Dioxine überprüft werden.
Dazu aber hat sich Ministerin Aigner nicht durchgerungen – obwohl sie es versprochen hat. Stattdessen hat sie die Öffentlichkeit getäuscht, indem sie Alibimaßnahmen wie Informationspflichten für Labore durchgesetzt hat.
Ihnen wird vorgeworfen, das Dioxin-Problem zu dramatisieren.
Bode: Wir schüren keine Panik. Natürlich fällt ein Verbraucher nicht sofort tot um, wenn er ein hoch belastetes Dioxin-Ei isst. Doch wir wissen, dass ein Großteil der Bevölkerung, insbesondere Kinder, bereits eine zu hohe Gift-Belastung im Körper trägt. Das heißt: Wir dürfen überhaupt kein zusätzliches Dioxin in die Nahrungsmittelkette gelangen lassen, um die Gesundheit der Menschen langfristig zu schützen.
Sie würden das Verbraucher- und Landwirtschaftsministerium sofort abschaffen. Warum?
Bode: Verbraucherpolitik braucht ein eigenes Ressort. So aber vertritt dasselbe Ministerium die Interessen der Verbraucher und die der Futtermittelindustrie. Das geht zu Lasten der Verbraucher.
Wieso?
Bode: Weil das Ministerium traditionell die Interessen der Landwirte vertritt, die von denen der Verbraucher verschieden sind. Die Verbraucher wollen hohe Qualität zu möglichst geringen Preisen. Die Hersteller von Futtermitteln wollen möglichst teuer verkaufen und zu geringen Kosten produzieren. Dabei sind sie auf den Kauf billiger Rohstoffe angewiesen. Und so kann es passieren, dass Altöl im Futtermittel landet. Es wird laufend gegen das Gesetz verstoßen, weil das Risiko, erwischt zu werden, gering ist.
Wir können so nicht mehr weitermachen.
Goldener Windbeutel 2011