Essen. Wo die Braunkohle herkommt, ist dem Klima egal. Lützerath ist ein Symbol der Klimabewegung – auch gegen Habecks grüne Realpolitik. Eine Analyse.

Bis zur letzten Sekundenklebertube wollen Klimabewegte das längst verlassene Dorf Lützerath vor den Braunkohlebaggern verteidigen. Die Republik schaut zu, die Polizeieinsätze prägen die Nachrichten. Die drei großen Fragen dahinter lauten: Ist Braunkohlestrom angesichts der Klimakrise überhaupt noch vertretbar? Taugt ein Geisterort als Symbol für den Protest dagegen? Und wie konnten ausgerechnet die Grünen diesen Deal mit RWE aushandeln, der die Partei nun zu zerreißen droht?

In Lützerath kommen dieser Tage alle Generationen zusammen, auch die letzte. Schülerinnen und Schüler im Namen von Fridays for Future mit ihrer nicht mehr ganz so jungen Anführerin Luisa Neubauer. Menschen meist mittleren bis höheren Alters der radikaleren Anti-Kohle-Organisation „Ende Gelände“ und Bewegte der „letzten Generation“ jeden Alters. Sie eint hier und jetzt das Ziel, die Räumung der Polizei möglichst schwer zu machen. Doch eigentlich ist ihre Botschaft nicht an einen Ort gebunden, sie lautet schlicht: Raus aus der Kohle – und zwar jetzt. RWE solle einfach „mit diesem Irrsinn aufhören“, sagt ein älterer Herr, dessen Hand auf der Zufahrtsstraße klebt, in eine Fernsehkamera.

Grünen ist Kohlestrom lieber als Atomstrom

Denn die Verbrennung von Braunkohle ist die klimaschädlichste Art der Stromerzeugung. Das hat keine Partei in Deutschland jahrzehntelang so sehr beklagt wie die Grünen. Doch selbst sie sind überzeugt, dass es ohne Braunkohle noch nicht geht. Nicht jetzt, da Deutschland infolge des russischen Krieges in der Ukraine Gas sparen muss. Und gleichzeitig Strom nach Frankreich fließt, weil dort viele Atomkraftwerke nicht laufen. Der grüne Klimaminister Habeck hat deshalb RWE sogar gebeten, Braunkohlekraftwerke, die Ende 2022 vom Netz hätten gehen sollen, länger zu betreiben.

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Die Lage ist nicht frei von Ironie: Neben der Gaskrise ist die Atomkraft der Hauptgrund für das Kohle-Comeback. Zu einem kleinen Teil, weil die Grünen sie ablehnen und Habeck derzeit lieber auf den Klimakiller Kohle setzt als auf Akw. Zum größten Teil aber, weil die von der FDP als Lösung der Energiekrise gepriesene Atomkraft sich in Frankreich als besonders unzuverlässig erwieset hat, weil dort Rost, Risse und trockene Flüsse zeitweise mehr als die Hälfte der 56 Akw lahmgelegt haben.

Habecks umstrittener Deal mit RWE

Habecks Deal mit RWE ist grüne Realpolitik in Reinkultur: Dafür, dass RWE aktuell mehr Braunkohle verfeuern darf als im Kohlekompromiss von 2018 geplant, werden die letzten Kraftwerke im rheinischen Revier bereits 2030 statt 2038 abgeschaltet. Dadurch bleiben nach seinen Angaben 280 Millionen Tonnen Braunkohle im Boden. Weil dadurch insgesamt Emissionen eingespart werden, sei die kurzfristige Kohle-Renaissance zu verschmerzen – inklusive des Abrisses von Lützerath.

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An dieser Stelle beginnt der neuerliche Riss durch die Grünen: Viele in der Basis halten den Preis für zu hoch, solidarisieren sich stattdessen mit den Protestierenden. Zumal es zu jeder Rechnung von Habeck und RWE eine gegenteilige gibt: Ob die Kohle unter Lützerath wirklich noch gebraucht wird, verneint etwa eine Aurora-Studie im Auftrag von Kohlegegnern. Mehrere Gutachten im Auftrag der NRW-Landesregierung bescheinigen ihr dagegen, dass Lützerath nicht zu halten sei. Wie sehr die Ergebnisse – je nach Auftraggeber – auseinanderdriften, spricht nicht eben für ihre Unabhängigkeit.

Ostdeutsche Landesregierungen verteidigen die Braunkohle

Klar ist: Es wird noch Braunkohle aus dem Rheinischen Revier gebraucht, um die Stromversorgung in Deutschland bis Ende dieses Jahrzehnts zu sichern. Dies auch, weil CDU- und SPD-geführte Landesregierungen durchgesetzt haben, dass Deutschland zuerst aus der Stein- und zuletzt aus der Braunkohle aussteigt, was für das Klima die falsche Reihenfolge ist. Ob nun aber die Braunkohle aus Lützerath oder einem anderen Revier kommt, ist nur für dieses Örtchen relevant, nicht fürs Klima.

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Wem also wäre mit dem Erhalt der kleinen Gruppe verlassener Häuser geholfen? Kein einziger Bewohner des Dorfes ist mehr in Lützerath – und kein einziger will zurück. Zumal er damit rechnen müsste, dass die Erde an den Tagebaukanten alsbald wegbricht und es attraktivere Aussichten gibt, als auf einer Halbinsel inmitten einer Mondlandschaft zu leben.

Lützerath ist ein Symbol. Proteste in einem abzureißenden Ort machen sich medial besser als im Irgendwo der rheinischen Kraterlandschaften. Oder gar in der Lausitz, wo sich am meisten fürs Klima erreichen ließe. Dort und im mitteldeutschen Revier wollen Konzerne und Landesregierungen unbedingt bis 2038 baggern. Dabei wäre der Braunkohlestrom im strukturschwachen Osten Netzbetreibern zufolge viel eher verzichtbar als der aus dem Rheinland, der wichtig etwa für die Industrieregionen im Südwesten ist.

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Dass Deutschland derzeit Rückschritte in Sachen Klimaschutz macht, ist jedoch unbestritten. Stein- und Braunkohleblöcke laufen länger als geplant oder werden gar reaktiviert. Mit dem Pariser Ziel, die Erderwärmung unter 1,5 Grad zu halten, ist das schwer vereinbar, worauf die Protestierenden zurecht hinweisen. Nicht nur ihnen geht es bei der Energiewende viel zu langsam, diverse Studien sagen voraus, dass diese Schwelle noch in diesem Jahrzehnt überschritten wird, die Weltwetterorganisation (WMO) hält das bis 2026 für wahrscheinlich.

Die Zeit im Kampf gegen den Klimawandel läuft Habeck davon

Das schwächt auch die Linie von Habeck und der grünen NRW-Wirtschaftministerin Mona Neubaur: Die von ihnen reklamierten mittelfristigen Fortschritte, die CO2-Einsparungen ab 2030 durch den vorgezogenen Kohleausstieg im Rheinland verlieren an Bedeutung, wenn bis dahin bereits so genannte Kipppunkte erreicht sind, ab denen sind klimabedingte Prozesse nicht mehr aufzuhalten sind. Etwa schmelzende Eisschilde in der Antarktis, sterbende Korallenriffe und tauende Permafrostböden in Sibirien – mit der verheerenden Folge, dass sie dann Unmengen an Methangas freisetzen, was den Klimawandel wiederum beschleunigt.

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Der Wettlauf gegen die Zeit wird zwangsläufig mit jedem Jahr, in dem zu wenig passiert, immer hektischer. Genau deshalb bricht Wirtschaftsminister Habeck schon das nächste grüne Tabu: Er setzt auf die in Deutschland verbotene CCS-Technik, mit der CO2 aufgefangen und in tiefes Gestein verpresst wird. Länder wie Norwegen, die Niederlande und die USA sehen darin die Lösung. Auch in Deutschland galt das bereits in der rot-grünen Regierung Schröder dem damaligen „Superminister“ Wolfgang Clement als Königsweg. Doch Bedenken von Umweltschützern, das Klimagas werde dereinst doch entweichen, das Problem wie schon der Atommüll nur den kommenden Generationen hinterlassen, machten sich die Grünen seinerzeit zu eigen.

Habeck setzt auf CCS-Technik – und bricht das nächste grüne Tabu

Das will Habeck nun ändern: Er sähe den Klimakiller „lieber im Boden als in der Atmosphäre“, sagte er beim Besuch einer norwegischen Zementfabrik, deren CO2 künftig Tausende Meter unterm Meeresboden landen soll. Grundsätzlich ist das fast überall in der Industrie möglich: Auch ein Kohlekraftwerk kann ohne CO2-Emissionen betrieben werden, wenn das Klimagas abgeschieden wird. Norwegen wirbt darum, deutsches Treibhausgas zu entsorgen. Noch ist das viel zu teuer, aber ab 2030 soll es für 30 bis 55 Euro je Tonne CO2 möglich sein, versprechen die Norweger. Das wäre deutlich günstiger als das Recht, es in die Luft zu blasen: Aktuell kostet das in Europa 77 Euro je Tonne.

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Habeck teilt zwar die Ansicht von Greenpeace, dass es besser sei, CO2 gar nicht erst zu erzeugen. Weil das aber in den weltweit auf Wachstum gepolten Wirtschaftssystemen unrealistisch ist und den Regierungen im Kampf gegen den Klimawandel die Zeit davonrennt, kommt beim grünen Hanseaten einmal mehr der Realo durch: „Wir haben so viel Zeit verplempert, dass wir sagen müssen: Wir nehmen das, was verfügbar ist“, sagte Habeck. Und lässt sein Ministerium prüfen, ob und wie Deutschland CCS nun doch erlauben kann.

Die Industrie verfolgt seinen Vorstoß mit größtem Interesse: Im Ausland treiben Konzerne wie RWE, Eon, Thyssenkrupp und MAN längst CCS-Projekte voran. Sie sehen einen globalen Markt dafür. Denn bis die Industrie mit Wasserstoff und reinem Ökostrom auskommt, wird es länger dauern als bis 2030. Zu lange, um die Erderwärmung rechtzeitig zu stoppen.