Pulheim. In Pulheim kontrolliert Amprion das Stromnetz von halb Europa. Wie die Wächter Störungen in Sekunden beheben und was im schlimmsten Fall droht.
Europa liegt auf der Seite. Links Dänemark, rechts Italien, oben Tschechien, unten die Niederlande. Die Himmelsrichtungen sind zweitrangig auf der größten Monitorwand Europas. Nur die Null muss stehen in der Amprion-Hauptschaltleitung – immer genauso viel Strom ins Netz fließen wie in dieser Sekunde verbraucht wird. Ein nach Schule klingender Gong ertönt, nicht das Signal zur Pause, sondern für ein Problem. Ein Mitarbeiter greift zum Hörer. Rechts, also im Süden blinkt etwas rot, aber nur für Sekunden. Dann ist wieder alles im grünen Bereich.
In seiner gigantischen Echtzeit-Systemwarte überwacht der Dortmunder Netzbetreiber nicht nur sein eigenes Leitungsgeflecht von der Nordseeküste bis zum Bodensee, das senkrecht nicht auf den Bildschirm gepasst hätte, der so breit ist wie ein Handballfeld. Von hier aus kontrollieren die Netzingenieure auch die Stromautobahnen der Nachbarländer. Und sorgen so rund um die Uhr dafür, dass weder im Ruhrgebiet noch in Berlin oder Hamburg die Lichter ausgehen. Dafür muss der Blick über die Grenzen gehen – eine Störung in Belgien etwa würde in kürzester Zeit in Deutschland ankommen.
Amprion baut an und Stellen auf
Wer wissen will, wer wie verhindert, dass im Winter die Lichter ausgehen, der muss nach Brauweiler fahren, einen Ortsteil von Pulheim bei Köln. Draußen, vor der Pforte und den Sicherheitsschleusen, deutet nichts darauf hin, dass von hier aus fast das gesamte Stromnetz Nord- und Osteuropas kontrolliert wird. Kritische Infrastruktur fällt nicht gerne auf. Unübersehbar wird angebaut – Amprion braucht mehr Platz und auch mehr als seine derzeit 2500 Beschäftigten, um seine Wächterrolle ausfüllen und die Netze weiter ausbauen zu können.
Die Energiewende macht es komplizierter, das Netz stabil zu halten. Wenn immer mehr Strom im Norden erzeugt wird, aber im Süden und Westen die größten Industrieverbraucher sitzen, gibt es viel auszugleichen in Brauweiler. Deshalb haben sie auch mit künstlicher Intelligenz schwer aufgerüstet und 2021 ihre neue Hauptschaltleitung in Betrieb genommen. Ohne es zu ahnen, gerade rechtzeitig für diese Ausnahmelage.
RWE-Braunkohlestrom fließt gen Süden und ins Ruhrgebiet
Drinnen in der Warte geht es unaufgeregt, aber geschäftig zu. Grüne (220 Kilovolt) und rote Linien (380 kv) markieren die Höchstspannungsleitungen, winzige Symbole die Kraftwerke, Schaltungen geben die Richtung vor. Ein RWE-Braunkohlekraftwerk in Neurath speist gerade Strom in die Autobahn gen Süden, der Nachbarblock versorgt das Ruhrgebiet. Aktuell sind rund 16 Gigawatt (GW) Solarstrom im Netz und rund acht GW aus Windkraft, fast exakt soviel, wie die Kollegen nebenan am Vortag prognostiziert haben – eine essenzielle Vorleistung, um zu wissen, wie viel konventioneller Strom gebraucht wird.
Eine Europakarte erlaubt den Blick aufs große Ganze: Gerade wird in Italien mehr Strom gezogen als erzeugt, in Polen auch. Die Niederlande haben dagegen etwas abzugeben – passt insgesamt. Italien wird freilich vom Schweizer Netzbetreiber Swissgrid kontrolliert, der die Netze in Südeuropa koordiniert. Trotzdem blickt Amprion immer auch auf ganz Europa.
Italiens Stromhunger lässt unsere Backofenuhren nachgehen
Allein schon um sehen zu können, warum in den Küchen die Backofenuhren mal wieder nachgehen. Weil diese anders als die meisten Uhren ihren Sekundentakt noch aus der Steckdose erhalten, machen sich minimalste Frequenzabfälle im europäischen Stromnetz bemerkbar: Fällt sie unter 50 Hertz, gehen die Uhren nach, bei über 50 Hertz vor. Aktuell zeigt die Synchronzeitüberwachung auf dem Riesen-Monitor an: Europas Stromnetz hat 7,79 Sekunden Verspätung – Italien sei Dank.
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Wer zuweilen fragt, warum wir eigentlich den Franzosen mit ihren verrosteten Atomkraftwerken mit unserem Strom aushelfen sollen, sieht hier die Antwort auf einen Blick: Es gibt kein deutsches Stromnetz, sondern ein europäisches. Egal, wo Strom aus welcher Quelle ins Netz gespeist wird – er fließt in ein großes Flussgeflecht aus Elektrizität. Sie fließt von allein dorthin, wo Strom verbraucht wird. Die Strömung ergibt sich daraus, wo gerade viel und wo wenig abgezapft wird und welche Schleusen geöffnet oder geschlossen sind. Aufgabe von Amprion und Swissgrid ist es, den Flusspegel europaweit immer konstant zu halten. Die Schweizer betonen: Je größer das Netz, desto besser können Engpässe ausgeglichen werden – das Zusammenwachsen der europäischen Netze hat sie insgesamt sicherer gemacht, nicht anfälliger.
Wird es ein Grad kälter, braucht Frankreich zwei Akw mehr
Frankreich exportiert an diesem Dienstagmittag übrigens Strom nach Deutschland. Europas Sorgenkind, das nur etwa die Hälfte seiner 56 Akw in Betrieb hat, freut sich über die Herbstsonne – bei 25 Grad bleiben die Heizungen, die in Frankreich meist mit Strom betrieben werden, aus. Doch wenn es kälter wird, dreht sich die Lage unweigerlich: Ab 15 Grad Celsius, so die erschreckende Faustregel der Netzexperten, braucht Frankreich für jedes Grad, das es kälter wird, zwei große Atomkraftblöcke (2,4 Gigawatt). Weil deshalb Frankreich anders als in früheren Wintern zu wenig statt zu viel Strom für sich selbst produziert, wird auch deutscher Strom – ganz von selbst – nach Frankreich fließen. Das wird die Lage im Winter „anspruchsvoll“ machen, heißt es bei Amprion. Aber beherrschbar, wie Amprion mit den anderen drei deutschen Netzbetreiber im jüngsten Stresstest für die Bundesregierung dargelegt hat.
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Bei der Frage, ob in diesem Winter ein Blackout droht, rollen trotzdem ein paar Augen. Die offizielle Antwort einer Amprion-Sprecherin lautet: „Wir rechnen nicht mit einem Blackout. Unter einem Blackout verstehen wir den unkontrollierten flächendeckenden Zusammenbruch des europäischen Stromsystems.“ Die Frauen und Männer in der Warte wissen, dass immer etwas schiefgehen kann, das zu beheben, ist für sie Alltag. Sie wissen aber auch, was im Ernstfall zu tun ist.
Darum brauchen wir die Kohlekraftwerke im Winter
Wenn irgendwo in Deutschland oder den Nachbarländern zu wenig Strom durch Netz fließt, deshalb die Frequenz, der Pulsschlag des Stromnetzes, zu weit absinkt, müssen Kraftwerke hochfahren. Deshalb wird gerade ein Kohlekraftwerk nach dem anderen aus der Reserve geholt, deshalb
. Einen Mangel an Strom auszugleichen, ist leichter als einen Überschuss. Die meisten Blackouts weltweit resultierten aus einer Überlastung des Netzes, nicht aus Spannungsverlust.
Und wenn es nichts mehr zum Hochfahren gibt und die vielen anderen Ausgleichstechniken, die den Ingenieuren hier zur Verfügung stehen? Dann muss im Extremfall der Stromverbrauch abrupt gesenkt werden – und zwar dort, wo gerade zu wenig eingespeist wird. Das kann eine Straße sein oder ein Viertel oder ein Industriebetrieb – immer nur für wenige Stunden und in der Regel nachts. Wenn die Stromlücke länger dauert, werden andere Wohnblöcke oder Betriebe abgeklemmt, damit niemand länger im Dunkeln sitzt. Soweit der Extremfall. Als „Ultima Ratio“ könne man Lastabschaltungen nicht ausschließen, sagt die Unternehmenssprecherin, das sei aber „nicht sehr wahrscheinlich. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist dieses Instrument nicht mehr zum Einsatz gekommen“.
Historisches Erbe von RWE
Die Aufgabe, alle Netzbetreiber diesseits und jenseits der Grenzen zu koordinieren und im Ernstfall europaweite Gegenmaßnahmen einzuleiten, hat Amprion von RWE geerbt. Es geht zurück auf die ersten grenzüberschreitenden Stromflüsse 1958. Während die Netzwächter seinerzeit mit dem Fernglas die Schalter an den Leitungen überprüften, übernehmen das heute mehrere Rechenzentren und prüfen alle drei Sekunden Zehntausende Schaltgeräte und die Stromflüsse durch Tausende Leitungen auf 11.000 Kilometern.
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Doch der dutzendfache Ausfall französischer Atomkraftwerke und der Mangel an Reservekraftwerken in Bayern und Baden-Württemberg lässt die Netzwächter alles andere als sorgenfrei auf den Winter blicken. Grob gesagt, wird die Herausforderung sein, die Netze im Norden nicht zu überlasten und im Süden einen Strommangel zu verhindern. Denn quer durch Deutschland verläuft vom Nordwesten zum Südosten eine diagonale Grenze: Darüber wird mehr Strom erzeugt als verbraucht, darunter ist es umgekehrt.
Warum Windräder auch mal zwangsweise abgeschaltet werden
Deswegen wird in Brauweiler in diesem Winter wohl des Öfteren entschieden werden müssen, Meereswindparks in der Nordsee und Braunkohlekraftwerke in der Lausitz runterzufahren. Weil vor allem in Bayern zu wenige Kohlekraftwerke stehen und gleichzeitig Strom nach Frankreich abfließen wird, braucht der Freistaat dann Strom aus Österreich und der Schweiz.
Tatsächlich werden die Braunkohleblöcke im rheinischen Revier viel mehr gebraucht als die in Ostdeutschland, die viel mehr Strom erzeugen als dort gebraucht wird. Da die aus Norden fließenden Erneuerbaren Vorrang haben, dürften die Braunkohleblöcke in der Lausitz zuerst abgeschaltet werden, wenn an der Küste eine kräftige Brise weht und es eng wird in den Leitungen gen Süden. Dass die im Rheinland bis 2030 abgeschaltet werden, während die ostdeutschen Länder ihre Braunkohle bis 2038 halten wollen, passt dazu nicht.
Deutschland liegt beim Netzausbau sechs Jahre zurück
Damit die Überproduktion aus dem Norden nicht ins Leere geht, sondern den Süden mitversorgt, müssen die Stromautobahnen ausgebaut werden. Die aktuelle Krise fällt mitten in den Umbau des deutschen Stromnetzes, der reichlich Verspätung hat – auch wegen des Widerstands in Bayern gegen die dafür benötigten Stromtrassen. Die Nord-Süd-Trassen sollten zum Atomausstieg – also Ende dieses Jahres – fertig sein, werden es aber frühestens in sechs Jahren. Deutschland hat keinen Mangel an Strom, sondern einen Mangel an Leitungen.