Essen. Die Union heizt die Debatte um längere Akw-Laufzeiten erneut an. Es geht um Energiesicherheit, Preise und das Klima. Die Hauptargumente im Check.
Soll Deutschland seinen Atomausstieg wegen der Energiekrise verschieben? Diese Frage schien im März schon mit „Nein“ beantwortet. Die Betreiber, darunter die Essener Energieriesen RWE und Eon, zeigten wenig Interesse und äußerten Zweifel an Sinnhaftigkeit und Machbarkeit. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) erklärte, nach eingehender Prüfung sei das keine Option. Nun, da Russlands Lieferdrosselung einen Gas-Notstand näher rücken lässt, nimmt die Union einen neuen Anlauf: Die Parteichefs Friedrich Merz (CDU) und Markus Söder (CSU) fordern eindringlich, die drei verbliebenen Atomkraftwerke nicht wie gesetzlich vorgesehen zum Jahresende abzuschalten.
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Ihnen sprang nun auch noch der FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai bei, die Liberalen machen bisher vergeblich Druck in der Ampel-Koalition für eine Verschiebung des Atomausstiegs, Grüne und SPD sind dagegen. Was in der politischen Debatte anders als in der ökonomischen teils wild durcheinander geht, sind die Argumente für eine Akw-Verlängerung. Mal soll die Atomkraft das Gas ersetzen, sprich die Energieversorgung sichern, mal die Klimaziele retten und mal die Energiepreise drücken. Schauen wir uns diese drei Thesen an:
Argument 1: Die Energiesicherheit
Dies ist das Hauptargument der Union – und zugleich das schwächste. Gas wird in Deutschland zum allergrößten Teil (rund 88 Prozent) für die Wärmeerzeugung in Industrie, Privathaushalten und dem Gewerbe sowie zur Verarbeitung in der Industrie verbraucht, nur gut zwölf Prozent für die Stromerzeugung. Da kein Akw neben Strom auch nutzbare Wärme erzeugt, hilft ein Weiterbetrieb beim größten Problem in keiner Weise. Anders als Merz differenzierte Söder gleichwohl und sagte, es sei „Unsinn“, neben der sich abzeichnenden Gaslücke auch „noch eine zusätzliche Stromlücke“ zu riskieren.
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Diese Lücke wäre so klein auch nicht: Gaskraftwerke trugen im ersten Quartal 2022 rund 13 Prozent zum deutschen Strommix bei, Kohle 31,5 Prozent, Atomkraft sechs Prozent, der Rest war Ökostrom. Die fossilen Kraftwerke sorgen einerseits für den Grundlaststrom, andererseits für die Netzstabilität. Heißt: Bei steigendem Verbrauch in Spitzenzeiten fahren schnell zu regulierende Kraftwerke kurzfristig hoch- und bei sinkendem Verbrauch wieder runter. Dafür geeignet sind Gas- und Steinkohlekraftwerke, während die schwerfälligen Akw und Braunkohlekraftwerke Grundlaststrom produzieren. Akw können Gaskraftwerke also nicht einfach ersetzen, dafür geeignet sind vor allem Steinkohlekraftwerke.
Genau darauf baut Habeck, indem er den Weiterbetrieb von Kohleblöcken erlaubt, die im Herbst vom Netz gehen sollten, und auch die Reaktivierung von bereits stillgelegten Kraftwerken. Gleichzeitig sollen die Gaskraftwerke möglichst nicht mehr laufen, was viele Stadtwerke verärgert. Doch auch die gesamte zu hebende Kohlereservekapazität von 9,5 Gigawatt (GW) wird nicht reichen um die zuletzt 13,7 GW aus Erdgas zu ersetzen. Es dürften also auch im kommenden Winter weiter Gaskraftwerke gebraucht werden, die dann nur im Notfall hochfahren sollen.
Argument 2: Der Klimaschutz
Dass der grüne Minister auf die Kohle setzt, um das klimafreundlichere Gas zu ersetzen, gibt die Richtung vor: Deutschlands Strommix wird in Folge der Gaskrise schmutziger. Habeck hält das für ein notwendiges Übel. Deshalb nennen der NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) und mehrere Ökonomen auch Klimaschutzgründe als Hauptargument für den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke. Sie können keine Gaskraftwerke ersetzen, aber die besonders schmutzigen Braunkohleblöcke, um den Grundlaststrom sauberer zu machen. Atomkraftwerke stoßen in der Produktion selbst praktisch kein CO2 aus.
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„Ein Weiterbetrieb der Kernkraftwerke wäre vor allem zur Erreichung der Treibhausgasziele zu begrüßen“, sagte Manuel Frondel unserer Redaktion, Energieexperte des Essener RWI Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung. Mit den drei verbliebenen Akw könnte der zuletzt stabil bei rund 20 Prozent liegende Braunkohle-Anteil am Strommix um fünf bis sechs Prozentpunkte gesenkt werden.
Argument 3: Niedrigere Strompreise
Die Hoffnung der meisten Ökonomen, die sich für einen Weiterbetrieb der Akw aussprechen, ist eine mögliche Entlastung des Strompreises. Die reinen Produktionskosten, und das ist für den Börsenstrompreis relevant, sind bei den fossilen Kraftwerken in den Atommeilern am günstigsten, gefolgt von der Braunkohle, der Steinkohle und dem Gas als teuerstem Brennstoff. „Dass eine Akw-Verlängerung helfen würde, die Strompreise ein wenig zu reduzieren, wäre ein angenehmer Nebeneffekt“, sagt deshalb RWI-Forscher Manuel Frondel.
Er fügt an: „Aus volkswirtschaftlicher Perspektive wäre daher ein Weiterbetrieb der Akw, durchaus um ein Jahrzehnt oder länger, zu begrüßen.“ Die Betreiber bräuchten ohnehin eine längere Perspektive, damit sich ein Weiterbetrieb für sie auch lohne, meinen führende Ökonomen. Der frühere Chefwirtschaftsweise Lars Feld sagte dem Handelsblatt, die Politik müsse der Energiewirtschaft eine Perspektive von fünf Jahren geben.
Das sagen die Konzerne
Denn in der Tat zeigen Eon, RWE und EnBW bisher keinerlei Interesse an einer Laufzeitverlängerung. „Die kleine Erleichterung, die wir auf der Stromseite bekämen, würde die Lage nicht wirklich verändern“, sagte Eon-Chef Leo Birnbaum der Financial Times, „Atomkraft hat in Deutschland keine Zukunft. Punkt.“ RWE-Chef Krebber sagte dem Sender „Die Welt“: „Ich wundere mich ein wenig über die Debatte, vor allem über den Zeitpunkt.“ Die Debatte komme zu spät. „Wir müssen uns um die Sachen kümmern, die wirklich die Probleme lösen. Gasinfrastruktur aufbauen, Gas sparen“, sagte Krebber.
Für einen Weiterbetrieb müssten in kürzester Zeit Gesetze geändert, Genehmigungen erteilt und neue Brennstäbe geordert werden. Dass Letzteres nicht möglich sei, hatte Söder „fachlichen Blödsinn“ genannt, sie könnten „überall in der Welt“ besorgt werden. Krebber meinte wohl ihn, als er sagte, es könnten „nicht einfach von irgendwoher“ die benötigten Brennstäbe gekauft werden, sie müssten „genau zum Reaktortyp passen“. Es gehe zudem auch um Fragen der „Sicherheitsarchitektur, der Sicherheitsüberprüfungen und wer welche Risiken übernimmt“.
Die Eon-Tochter Preußen-Elektra betreibt das Kernkraftwerk Isar 2 bei Landshut, RWE das Kraftwerk Emsland in Lingen und EnBW Neckarwestheim 2 als die letzten drei aktiven Blöcke. Auch EnBW lehnte den Unions-Vorstoß unlängst erneut ab und betonte, Neckarwestheim 2 werde „spätestens am 31. Dezember 2022 endgültig abgeschaltet“.