Washington. Am Dienstag wählen die Amerikaner: Mitt Romney oder Barack Obama - einer von beiden wird sich mittelfristig durchsetzen, das gilt als sicher. Doch sonst ranken sich viele Mythen und Legenden um die Wahlen in Amerika. Wir decken die zehn größten Irrtümer auf - und erklären sie.

Etliche Mythen ranken sich um den spektakulären Präsidentschafts-Wahlkampf in Amerika, der am Dienstag zu Ende geht. Hier ein paar der immer noch weit verbreiteten Irrtümer über die Wahl bei „Uncle Sam“:

Irrtum 1: In Amerika geht alle Gewalt vom Volke aus. Die Bürger wählen ihren Präsidenten. Das Ergebnis steht am Abend des 6. November fest

Nicht wirklich. Genau genommen wählen die Amerikaner heute auf Ebene ihres jeweiligen Bundesstaates die Mitglieder des so genannten Wahlmännergremiums („electoral college“). Dieses Gremium, 538 Köpfe stark, kommt am 17. Dezember zusammen und wählt wirklich den Präsidenten. 270 Stimmen sind Voraussetzung für den Einzug ins Weiße Haus.

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In 26 Bundesstaaten sind die Wahlmänner- und Frauen gesetzlich verpflichtet, demjenigen ihre Stimme zu geben, der die Volksabstimmung („popular vote“) am 6. November gewonnen hat. In den übrigen Bundesstaaten wird entsprechendes Abstimmungsverhalten traditionell einfach erwartet. Heißt aber: Bei einem Kopf-an-Kopf-Rennen, wie es sich heute andeutet, kann es schon reichen, wenn ein oder zwei Wahlmänner ausscheren und politisch die Seite wechseln. Der bevölkerungsreichste Bundesstaat Kalifornien bietet 55 Wahlmänner auf, Alaska nur 3.

Das Ergebnis der Wahlmännerentscheidung wird vom Kongress geprüft und in der ersten Januarwoche 2013 vom amtierenden Vizepräsidenten (Joe Biden) verkündet. Erst dann ist es amtlich. Und was wäre bei einem 269:269-Patt im „electoral college“? Dann entscheidet das Repräsentantenhaus per Abstimmung über den neuen Präsidenten. Weil dort die Republikaner die Mehrheit haben und halten werden, würde Mitt Romney Präsident. Weil der voraussichtlich weiter von den Demokraten beherrschte Senat dann über den Vizepräsidenten entscheiden würde, wäre Joe Biden Romneys (unerwünschter) Sozius. Unterhalb dieses Szenarios kann sich das Endergebnis der „popular vote“ über Wochen hinziehen, wenn bei knappen Ständen Nachzählungen auf dem Klageweg durchgesetzt werden sollten.

Irrtum 2: Präsident wird man ausschließlich, wenn man landesweit in der Volksabstimmung die meisten Stimmen bekommen hat.

Sollte logischerweise so sein. War aber bereits vier Mal - 1824, 1876, 1888 und zuletzt im Jahr 2000 – nicht der Fall. Damals sicherte sich George W. Bush exakt 271 Wahlmännerstimmen, obwohl er landesweit circa 300 000 Stimmen weniger erzielt hatte als sein demokratischer Kontrahent Al Gore.

Im Hightech-Land USA finden auch Hightech-Wahlen statt? Denkste! 

Irrtum 3: In der Supermacht USA arbeiten alle Bundesstaaten mit der neuesten Technik, um den reibungslosen Ablauf der Wahl zu gewährleisten.

Nicht ganz. Zwar wurde nach dem Skandal mit unleserlichen Stimmzetteln bei der Wahl 2000 in Florida überall massiv in Technologie investiert. Aber noch immer gibt es Unterschiede. Im ländlichen Idaho wird in einigen Bezirken immer noch mit Lochkarten gewählt. In New Hampshire machen Wähler vereinzelt ihr Kreuz handschriftlich. Standard ist ansonsten der Einsatz von optischen Scannern für die Registrierung der Wahlzettel.

Irrtum 4: Die Präsidentenwahl in Amerika beginnt und endet überall zur gleichen Zeit.

Da ist leider die Größe des Landes mit ihren sechs Zeitzonen vor. Den Anfang macht aus alter Tradition das kleine Dorf Dixville Notch im Ostküsten-Staat New Hampshire. Dort darf am 6. November bereits um eine Minute nach Mitternacht gewählt werden. Die letzten Wähler gehen in Hawaii und Alaska an die Urnen. Dort sind die Wahllokale bis 5 bzw. 6 Uhr mitteleuropäischer Zeit am Mittwoch geöffnet.

Wenn es knapp wird, kann man zur deutschen Frühstückszeit am 7. November noch nicht verlässlich den neuen Präsidenten ausrufen.

Irrtum 5: Bei den Wahlen zum Kongress – dem aus Repräsentantenhaus und Senat bestehenden Zwei-Kammer-Parlament in Washington – sind die künftigen Mehrheitsverhältnisse völlig ungewiss. Alles neu macht immer die Wahl.

Schön wär’s. Diesmal besonders. Nie zuvor hatte der Kongress in der Bevölkerung ein so miserables Ansehen. In Wahrheit ist die Wahl der 435 Kongress-Abgeordneten und der 100 Senatoren (diesmal steht nur ein Drittel von ihnen zur Abstimmung) aber bereits fast überall gelaufen. Lediglich 26 “Repräsentanten” und 10 Senatoren machen es spannend, weil sie aussichtsreiche Gegenkandidaten haben.

Obama gegen Romney

Mindestens zwei Mal in der rund 90-minütigen Debatte beschuldigte Obama den Republikaner Romney, die Unwahrheit gesagt zu haben.
Mindestens zwei Mal in der rund 90-minütigen Debatte beschuldigte Obama den Republikaner Romney, die Unwahrheit gesagt zu haben. © AFP
Romney warf dem amtierenden Präsidenten im Gegenzug vor, die Ausgaben seiner Regierung ließen das Haushaltsdefizit ansteigen und hätten drastische Steuererhöhungen zur Folge.
Romney warf dem amtierenden Präsidenten im Gegenzug vor, die Ausgaben seiner Regierung ließen das Haushaltsdefizit ansteigen und hätten drastische Steuererhöhungen zur Folge. © AFP
Zudem machte er Obama für die hohen Benzinpreise verantwortlich.
Zudem machte er Obama für die hohen Benzinpreise verantwortlich. "Die Mittelklasse ist in den vergangenen vier Jahren zerdrückt worden", sagte Romney, der sich am Dienstag selbstbewusst und angriffslustig präsentierte. © REUTERS
Während der gesamten Debatte fielen sich die beiden Präsidentschaftskandidaten mehrmals gegenseitig ins Wort.
Während der gesamten Debatte fielen sich die beiden Präsidentschaftskandidaten mehrmals gegenseitig ins Wort. © AP
Beim Thema Energiepolitik wies Obama an einer Stelle eine Äußerung Romneys scharf zurück und sagte:
Beim Thema Energiepolitik wies Obama an einer Stelle eine Äußerung Romneys scharf zurück und sagte: "Stimmt nicht, Gouverneur Romney." © AFP
Als der Präsident seine eigene Haltung zum Thema erläutern wollte, reagierte Romney mit den Worten:
Als der Präsident seine eigene Haltung zum Thema erläutern wollte, reagierte Romney mit den Worten: "Sie bekommen gleich Ihre Chance... ich rede noch." © REUTERS
In der von CNN-Moderatorin Candy Crowley moderierten Debatte hatten unentschlossene Wähler die Möglichkeit, den beiden Präsidentschaftskandidaten selbst Fragen zu stellen.
In der von CNN-Moderatorin Candy Crowley moderierten Debatte hatten unentschlossene Wähler die Möglichkeit, den beiden Präsidentschaftskandidaten selbst Fragen zu stellen. © AP
Dabei ging es unter anderem um außenpolitische Themen. Auf die Frage eines Wählers nach dem tödlichen Anschlag auf das US-Konsulat im libyschen Bengasi, bei dem im September vier US-Bürger getötet wurden, antwortete ...
Dabei ging es unter anderem um außenpolitische Themen. Auf die Frage eines Wählers nach dem tödlichen Anschlag auf das US-Konsulat im libyschen Bengasi, bei dem im September vier US-Bürger getötet wurden, antwortete ... © AFP
... Obama, er sei letztendlich für die Sicherheit der US-Diplomaten verantwortlich.
... Obama, er sei letztendlich für die Sicherheit der US-Diplomaten verantwortlich. "Ich bin der Präsident und ich bin immer verantwortlich", sagte er. Zuvor hatte US-Außenministerin Hillary Clinton die Verantwortung für mögliche Sicherheitsmängel in Bengasi übernommen. © REUTERS
Die amerikanische First-Lady Michelle Obama war auch im TV-Studio mit dabei und trug, ebenso wie Mitt Romneys Frau, pink.
Die amerikanische First-Lady Michelle Obama war auch im TV-Studio mit dabei und trug, ebenso wie Mitt Romneys Frau, pink. © AFP
Zu den erinnerungswürdigsten Momenten des Abends zählte eine Auseinandersetzung der beiden Präsidentschaftskandidaten über Wirtschaftspolitik. Als Obama Investitionen seines republikanischen Herausforderers in China ...
Zu den erinnerungswürdigsten Momenten des Abends zählte eine Auseinandersetzung der beiden Präsidentschaftskandidaten über Wirtschaftspolitik. Als Obama Investitionen seines republikanischen Herausforderers in China ... © REUTERS
... thematisierte, unterbrach ihn Romney mit der Frage:
... thematisierte, unterbrach ihn Romney mit der Frage: "Mister President, haben sie sich ihre Rente angeschaut?". © REUTERS
Daraufhin reagierte Obama in Anspielung auf das Vermögen des Multimillionärs Romney:
Daraufhin reagierte Obama in Anspielung auf das Vermögen des Multimillionärs Romney: "Wissen Sie, ich schaue mir meine Rente nicht an. Sie ist nicht so groß wie Ihre." © AFP
Für beide Kandidaten stand am Dienstag viel auf dem Spiel: Nur drei Wochen vor der Wahl ist das Rennen laut Umfragen wieder völlig offen.
Für beide Kandidaten stand am Dienstag viel auf dem Spiel: Nur drei Wochen vor der Wahl ist das Rennen laut Umfragen wieder völlig offen. © AFP
An den TV-Duellen im Präsidentschaftswahlkampf der USA nehmen traditionell nur die Kandidaten der demokratischen und republikanischen Partei teil.
An den TV-Duellen im Präsidentschaftswahlkampf der USA nehmen traditionell nur die Kandidaten der demokratischen und republikanischen Partei teil. © AFP
Die TV-Debatte am Dienstag war die zweite von insgesamt drei zwischen Obama und Romney vor der Präsidentschaftswahl am 6. November.
Die TV-Debatte am Dienstag war die zweite von insgesamt drei zwischen Obama und Romney vor der Präsidentschaftswahl am 6. November. © AFP
Das Urteil von Experten fiel nach dem Duell zu Gunsten von Obama aus.
Das Urteil von Experten fiel nach dem Duell zu Gunsten von Obama aus. "Die Demokraten werden beruhigt sein, dass der Präsident wieder in die Offensive drängt", sagte Politikprofessorin Linda Fowler vom Dartmouth College. © AP
John Pitney, Professor am Claremont McKenna College, bescheinigte dem Präsidenten ebenfalls den besseren Auftritt:
John Pitney, Professor am Claremont McKenna College, bescheinigte dem Präsidenten ebenfalls den besseren Auftritt: "Es war knapp, aber der Vorteil liegt bei Obama." © REUTERS
Bei den Republikanern werde dagegen die Enttäuschung überwiegen, dass Romney den Erfolg des ersten TV-Duells nicht habe wiederholen können.
Bei den Republikanern werde dagegen die Enttäuschung überwiegen, dass Romney den Erfolg des ersten TV-Duells nicht habe wiederholen können. © AFP
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In den übrigen Bezirken hat die jeweils siegreiche Partei längst dafür gesorgt, dass die Wahlbezirke exakt so geschnitten sind, dass der eigene Mann/die eigene Frau einfach nicht verlieren kann. Das Ganze heißt „gerrymandering“, füllt mehrere Meter Bücherregal, riecht nach Betrug mit Ansage, ist aber in den USA seit Urzeiten legal.

Alle US-Bürger dürfen wählen? 

Irrtum 6: Auch wer in den so genannten „U.S. territories“ lebt, darf den Präsidenten wählen.

Falsch. Puerto Rico, Guam oder die Jungferninseln gehören zwar zum amerikanischen Hoheitsgebiet. Den Status von Bundesstaaten haben sie allerdings nicht. Die rund vier Millionen Einwohner dürfen heute nicht mitwählen.

Irrtum 7: Der US-Wahlkampf war diesmal tierisch langweilig.

Kann schon aus Prinzip gar nicht sein. Der Elefant ist schließlich das traditionelle Wappentier der Republikanischen Partei, der Esel das inoffizielle Symbol der Demokraten. Die vor über 100 Jahren eingeführten Embleme stehen für Kraft und Intelligenz (Elefant) sowie Eigensinn und Beharrlichkeit (Esel). In diesem Jahr machten zudem zwei andere Tiere Schlagzeilen im Wahlkampf – beide Male nicht zum Vorteil von Mitt Romney. Im ersten TV-Duell kündigte Romney unvermittelt an, dem Heimatsender der „Sesamstraße“ die öffentlichen Zuschüsse zu kappen, weil schließlich streng gespart werden müsse. „Bibo“, der gelbe Riesenvogel, stand für ein paar Tage unter Naturschutz. Hundertausende machten sich im Internet für Bibo stark.

Im zweiten Fall kam eine uralte Geschichte hoch. Romney schnallte einmal bei einer Urlaubsfahrt als junger Vater den hauseigenen Hund Seamus in seiner Hütte auf dem Autodach fest. Seamus bekam Durchfall. Während der Fahrt. Nicht schön für alle Beteiligten. Hundefreunde mögen Romney seither nicht besonders.

Irrtum 8: Der amerikanische Präsident ist der mächtigste Politiker der Welt.

Vielleicht der Papierform nach – und wenn, ganz wichtig, der Kongress ihn lässt. Barack Obama musste zuletzt leidvoll erfahren, wie überschaubar der Handlungsspielraum des Präsidenten ist, wenn ein republikanisch dominiertes Repräsentantenhaus und ein demokratisch beherrschter Senat sich wechselseitig blockieren und parlamentarischen Stillstand produzieren.

Selbst bei existenziellen Themen wie der Abwendung des Staatsbankrotts. Dem „Commander-in-Chief“ sind dann weitgehend die Hände gebunden. Das nennt man dann „lame duck“, lahme Ente.

Wird der US-Wahlkampf in der Fernsehdebatte entschieden? 

Irrtum 9: In Amerika haben auch Kandidaten eine Chance, die nicht selber reich sind oder solvente Unterstützer haben.

Leider falsch. Mitt Romney ist das beste Gegenbeispiel. Der auf 250 Millionen Dollar geschätzte Ex-Manager hatte bereits 2008 bei seiner ersten Bewerbung um das Weiße Haus (die Republikaner schickten damals John McCain ins Rennen) auch eigene Finanzmittel eingesetzt. Diesmal hat er vor allem mächtige Wirtschaftsbosse hinter sich, die sich in höchtrichterlich genehmigten Spendensammel-Vereinen (Super-Pacs) zusammentun und ihn mit hohen dreistelligen Millionen-Beträgen unterstützen.

Insgesamt wird Romneys Wahlkampagne am Ende eine Milliarde Dollar verschlungen haben – Weltrekord. Obama konnte auf ungefähr die gleiche Summe zurückgreifen. Bei ihm ist der Anteil der Kleinspender, die Summen zwischen 10 und 100 Dollar geben, zigfach größer. Leute wie Virgil Goode, Gary Johnson oder Jil Stein, die ebenfalls am Dienstag um das höchste Staatsamt kandidieren, waren niemals in der Lage, zig Millionen Dollar einzusammeln. Darum kennt die außer Konkurrenz laufenden Politiker auch so gut wie niemand.

Irrtum 10: Der US-Wahlkampf läuft ausschließlich über das Fernsehen. Hier bekämpfen sich die Kontrahenten mit TV-Spots, hier halten sie ihre Reden an die Nation. Alles andere zählt nicht.

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Im Gegenteil. Richtig ist, dass in diesem Jahr die Budgets für TV-Werbung alle Rekorde gesprengt haben; am Ende dürften es weit über 500 Millionen Dollar gewesen sein. Außerdem waren die drei TV-Duelle zwischen Obama und Romney nicht unwichtig für die Meinungsbildung vieler. Aber: Klinkenputzen und der unmittelbare Kontakt zu den Bürgern ist und bleibt vor allem in den heftig umkämpften Bundesstaaten, in denen Wechselwähler entscheiden, unverändert das A und O. In Ohio etwa weiß die Demokratische Partei über jeden registrierten Wähler mehr als mancher bei Facebook freiwillig über sich preisgeben würden.

Auf der Basis dieser Daten wurden bis zur letzten Minute passgenau Hausbesuche unternommen, um potenzielle Wähler zum Urnengang zu bewegen. Dieses „ground game“, das Spiel am Boden, wird von Hunderttausenden Ehrenamtlichen erledigt. Beide Parteien haben dazu von Stadt zu Stadt hochkomplexe Netzwerke aufgebaut. Meinungsforscher glauben, dass dieser Straßenwahlkampf am Ende den Ausschlag geben kann.