Paris. . Glaubt man den Besuchern von „Harry’s New York Bar“, dann dürfte US-Präsident Barack Obama das Kopf-an-Kopf-Rennen mit Mitt Romney am Ende für sich entscheiden. In der Pariser Bar dürfen Amerikaner seit 88 Jahren „Probewählen“ - erst zweimal lagen sie falsch. Und derzeit liegt Obama deutlich vor Romney.

Wer vorher wissen möchte, wer die Präsidentenwahl in den USA gewinnt, sollte sich in der Rue Daunou im zweiten Pariser Bezirk schlau machen. Die kleine Straße zwischen der Place Vendôme und der Garnier-Oper beherbergt die legendäre „Harry’s New York Bar“. Seit 88 Jahren ist die „älteste Cocktail-Bar Europas“ Schauplatz einer berühmten Probeabstimmung. Das Besondere: Das Ergebnis von „Harry’s“ stimmt fast immer mit dem späteren Wahlausgang in den Vereinigten Staaten überein.

„Erst zwei Mal lagen wir daneben: sechsundsiebzig bei Ford/Carter und 2004 bei der Wiederwahl von Bush junior“, sagt Laurent, der Barkeeper. Bei allen anderen Präsidentschaftswahlen hatten die Gäste der Bar die richtige Nase. Wie schon bei der Premiere 1924, als John Calvin Coolidge junior zum 30. Präsidenten gewählt wurde - zuerst bei „Harry’s“ und dann auf der anderen Seite des Atlantiks.

Energisch tritt Laurent dem Eindruck entgegen, als handele es sich um ein unseriöses Spektakel. Nein, beteuert der Barmann, mit strengem Auge wachten er und seine Kollegen darüber, dass die vom Namensgeber Harry MacElhone aufgestellten Regeln pedantisch eingehalten würden. „Wahlberechtigt sind nur Amerikaner in Paris und solche, die sich auf der Durchreise befinden“, erklärt der Franzose, der seit 13 Jahren in „Harry’s“ Diensten steht und nun seiner vierten US-Wahl entgegensieht. Wer sein Kreuzchen machen möchte, müsse sich mit seinem Reisepass ausweisen sowie Name, Bundesstaat und E-Mail-Adresse auf dem Stimmzettel vermerken. Wer schummle und etwa zwei Mal wähle, fliege sofort auf.

Die „Bloody Mary“ wurde hier erfunden

An diesem Nachmittag hält sich der Andrang in Grenzen. An der Bar verteilen sich die Stammgäste – die meisten sind Franzosen. Eine attraktive Mittdreißigerin bestellt einen Champagner. Die Touristen aus den Staaten sitzen an Tischen und bevorzugen die Klassiker des Hauses, allen voran die hier 1921 erfundene „Bloody Mary“.

Während Laurent in flinker Abfolge Pfeffer und Salz, einige Tropfen Tabasco und Worcestersauce, Zitronensaft, Wodka und blutroten Tomatensaft in das Longdrink-Glas gibt, füllt Whitman Wheeler seinen Stimmzettel aus. Der Tourist aus North-Carolina, zum ersten Mal auf Paris-Besuch, macht aus seiner Haltung kein Hehl. „Ich habe gerade Obama gewählt“, sagt er. Und fügt hinzu: „Der Präsident hat unser Land modernisiert, er ist liberal, demokratisch und entspricht ganz meiner Überzeugung.“

Seit die komplette Einrichtung 1911 in New York ab- und nach dem Schiffstransport in Paris wieder aufgebaut wurde, hat sich nichts geändert. Die Bar, der wohl amerikanischste Fleck in der Seine-Metropole, ist ein musealer Ort, der sich prominentester Kundschaft rühmen darf. George Gershwin soll am Bar-Piano einst Teile von „Ein Amerikaner in Paris“ komponiert haben, Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald waren in den 20er-Jahren Stammgäste, Marlene Dietrich, Humphrey Bogart und Clint Eastwood schauten ebenfalls gerne auf einen Drink (oder zwei) vorbei.

Obama/Biden liegt zurzeit 165:133 vorne

Die Barkeeper im „Arris“, so die französische Betonung, tragen seit jeher weiße Westen, weiße Schürzen und eine rote Krawatte zum weißen Oberhemd. Sie geben nicht den dandyhaften Mixer, sondern verstehen sich als seriöse und stolze Kunsthandwerker an Tresen und Flasche, Glas und Eiswürfel. Mal rührend, mal schüttelnd, aber stets professionell.

Alle vier Jahre stellen sie die massive weiße Urne mit der Aufschrift „U.S. Presidential Straw Vote“ unter das „Stars & Stripes“-Banner. Jedes Wochenende gibt’s einen neuen Zwischenstand, der mit weißer Farbe auf den Spiegel am Tresen aufgetragen wird. „B. Obama/J. Biden“ führen derzeit mit 165:133 gegen „M. Romney/P. Ryan“.