Witten. Die neue Pferdebachstraße in Witten ist schön, die Abrechnung gemacht. Mit heftigen Mehrkosten und 26 Monaten längerer Bauzeit. Wie kam es dazu?
Der Umbau der Pferdebachstraße war mit Abstand das größte Wittener Straßenbauprojekt der letzten Jahrzehnte in der dicht bebauten Innenstadt. Längst sind die Entbehrungen während der langen Bauphase vergessen, die neue Trasse begeistert. Doch ein Bericht des städtischen Rechnungsprüfungsamtes, der der Redaktion vorliegt, zeigt nun: Die Stadt war mit diesem Projekt anfangs völlig überfordert. So kam es zu einer Bauzeitverlängerung um 26 Monate, die Baukosten haben sich fast verdoppelt und könnten sich auf 21 Millionen Euro summieren. Wie konnte es dazu kommen?
Aktuell läuft noch eine juristische Klärung zwischen Stadt und dem Generalbauunternehmer, der Firma Depenbrock, zu Nachträgen und Kostenübernahmen. Das heißt, ganz fix sind die Gesamtkosten noch nicht. Aber viele Rechnungen liegen dem Rechnungsprüfungsamt vor, der Bericht dazu soll am Montag (27.11.) der Wittener Politik vorgestellt werden.
Demnach betragen die Kostensteigerungen für die Baufirma 85% und stiegen von 10,3 Millionen (Bauvertrag) auf 19 Millionen Euro. Das Büro, das die Planung, Bauoberleitung und Bauüberwachung inne hatte, bekam erst einen Honorarvertrag über 747.755 Euro, der auf 1.591.500 Euro anwuchs. Die Kosten für die Bodengutachter („Geo-Büro“) explodierten regelrecht, um 1064 %. Der Hauptauftrag war mit knapp 30.000 Euro angesetzt und kostete tatsächlich 345.607 Euro. Hinzu kommen zusätzliche Aufträge, die im Laufe der Bauzeit an andere Firmen vergeben wurden – etwa der Abriss des Güterbahnhofs oder die Altlastensanierung einer Tankstelle.
Sanierung einer Tankstelle nicht eingeplant
Klar ist: Bei einem so komplexen Bauprojekt gibt es immer Überraschungen. Zum Beispiel zeigte sich erst während der Arbeiten, dass der Boden nicht tragfähig war (Fließsand) und man daraufhin das Bauverfahren ändern musste. Oder man fand unbekannte Leitungen im Untergrund. Aber es wurden auch echte Fehler gemacht. So war es aktenkundig, dass es eine ehemalige Tankstelle dort gab, wo heute das Medizinische Centrum steht. Trotzdem wurde die Sanierung bei der Planung nicht berücksichtigt. Oder: die Größe der „Mehrbedarfsflächen“, wo man zum Beispiel Erdaushub lagert, wurden zu knapp kalkuliert.
Schon kurz nach Spatenstich im August 2018 kamen die Arbeiten ins Stocken: Der alte Güterbahnhof war noch nicht abgerissen und so kamen die Tiefbauarbeiten nicht voran. Die Arbeiter buddelten einstweilen neben dem Bahnhofsgebäude weiter – und fanden die Tankstelle. Da brauchte es aber erst die Altlastensanierung. Also zogen die Bagger um zur Leostraße und im regenreichen Frühjahr 2019 tat sich der Treibsand auf und während man sich über Bodenverbesserungen stritt, herrschte Stillstand.
Fehlerhafte Bauplanung, schlechte Baubegleitung
„Aus heutiger Sicht betrachtet, ist bei großen Projekten zwingend eine deutlich verbesserte Aufstellung der Verwaltung bereits in der Planungsphase erforderlich, denn in dieser Projektphase werden die entscheidenden Weichen für eine erfolgreiche Bauabwicklung und Umsetzung gestellt“, schreiben Tiefbauamtsleiter Jan Raatz und Stadtbaurat Stefan Rommelfanger rückblickend in einer Stellungnahme. Tatsächlich haben eine fehlerhafte Bauplanung und schlechte Baubegleitung in der Anfangsphase viele Probleme erst nach sich gezogen. Auf die fehlerhafte Planung baute der Vertrag mit dem Tiefbauunternehmen auf, dessen Zeitrahmen „sehr optimistisch“ kalkuliert worden war, heißt es in der Stellungnahme.
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Während der Planungen wechselte das Personal in der städtischen Bauverwaltung einmal komplett (Projektleitung, Abteilungsleiter Tiefbau, Amtsleitung Planung und Tiefbau sowie Stadtbaurat). Während der Entwurfs- und Ausführungsplanung 2015/16 und in der Durchführung der Ausschreibung 2017/18 sei es dadurch zu „erheblichen Informationsverlusten, Kommunikationsmängeln und Unterbrechungen in der Bearbeitung“ gekommen, geben Raatz und Rommelfanger eine Erklärung. Jan Raatz (51) folgte 2018 als Tiefbauamtsleiter auf Ottmar Menzel, Stefan Rommelfanger (61) kam 2016 für Markus Bradtke nach Witten.
Bauunternehmen nutzte Schwächen der Bauherren
Wenn man den Rechnungsprüfungsbericht liest, drängt sich der Eindruck auf, dass das Tiefbauunternehmen den Bauherren – das waren die Stadt Witten, ESW und Stadtwerke – auf der Nase herumtanzte. Die Schwächen der Auftraggeber und die Mängel in der Planung wurden geschickt genutzt – und zwar mit „Claim-Management“. So nennt man es, wenn Nachforderungen gestellt werden, die, so schreibt es die Mitarbeiterin des Rechnungsprüfungsamtes, „ausnahmslos äußerst detailliert, schlagfertig und offensiv“ begründet wurden. Teilweise wurden mehrere Anmeldungen und Nachträge pro Tag beim Tiefbauamt eingereichte und oft überhöhte Preise bei den Nachtragsangeboten kalkuliert.
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„Insbesondere in den ersten Monaten zu Beginn der Baumaßnahme wurden alle drei Auftraggeber mit Anmeldungen und Anzeigen schlichtweg „überrollt“. Die eigenen personellen Kapazitäten für den Umgang mit dem Schriftverkehr und zur Lenkung der Baumaßnahme reichten nicht aus“, schreibt das Baudezernat und muss eingestehen: „Alle Auftraggeber konnten ihrer Bauherrenfunktion nicht immer zeitnah und im erforderlichen Umfang sowie mit einer systematischen Dokumentation nachkommen.“
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Mitte 2019 schon nahmen die Probleme ein Ausmaß an, dessen Komplexität das Bauamt nicht mehr bewältigen konnte, rügt das Rechnungsprüfungsamt. Daraufhin führte die Stadt Witten Gespräche auf höchster Ebene und ergriff Gegenmaßnahmen. Unter anderem wurde ein Ingenieurbüro für die Projektsteuerung beauftragt, im Tiefbauamt ein weiterer Bauleiter eingestellt und zudem die Maßnahme fortan juristisch begleitet.
Künftig immer mit externem Projektsteuerer
Die guten Nachrichten: Einen Teil der Mehrkosten, so Rommelfanger, könne man über Fördermittel abdecken. Und: Aus den Fehlern bei der Pferdebachstraße hat die Stadt Witten gelernt. Mit Blick auf zukünftige Projekte wie den Umbau der Sprockhöveler Straße werde demnächst immer mit externen Projektsteuerern gearbeitet. Inzwischen wurde ein Projektmanagementsystem eingeführt. Von vornherein werde auf genügend Personal und mit einer festen Projektstruktur gearbeitet, es soll ein Controlling der Bauinvestitionen geben. Dass das Projekt Pferdebachstraße nach fünf Jahren doch noch ein gutes Ende fand, scheint aus heutiger Sicht fast wie ein Wunder.