Witten. Viele eindringliche Worte sind bei der gut besuchten Gedenkfeier zur Pogromnacht in Witten gefallen. Jene von San Jola (20) bewegten besonders.
Seit 85 Jahren ist der 9. November nicht irgendein Tag. Er erinnert an die Pogrome und die darauf folgende Vernichtung der Juden. Der 7. Oktober 2023, an dem die Hamas mit ihren Angriffen auf Israel begann, gibt dem historischen Datum eine neue Dringlichkeit. So haben sich auch mehr Menschen als sonst an diesem Donnerstagabend in Witten versammelt, um aller Opfer zu gedenken. Die Worte eines jungen Witteners hinterließen besonderen Eindruck.
Es mögen um die 300 Männer und Frauen sein, die sich um 18 Uhr an der Ecke Synagogenstraße / Breite Straße vor dem Ruhr-Gymnasium treffen. Dort, wo einst die 1885 erbaute Synagoge stand. So viele waren es noch nie bei dieser Gedenkfeier. So viele waren es zuletzt auch nicht beim Friedensgebet in der Johanniskirche oder bei der Solidaritätskundgebung auf dem Rathausplatz.
Wittener Bürgermeister, Schulleiter und Pfarrer mahnen
Bürgermeister Lars König, Schulleiter Dirk Gellesch und Pfarrer Claus Humbert als Synodalbeauftragter für den christlich-jüdischen Dialog richten eindringliche Appelle, mahnende Bitten und beklemmende Worte an die Zuhörenden. Doch was die Schülerinnen und Schüler des Ruhr-Gymnasiums zu sagen haben, beeindruckt ganz besonders. Vor allem die Rede des 20-jährigen Schülersprechers San Jola lässt aufmerken.
Was gerade in Israel und im Gazastreifen geschehe, mache ihn sprachlos. Deshalb will San Jola auch gar nicht auf das Tagesgeschehen eingehen. „Wir wollen heute der Opfer der Nazis gedenken. Denn auch die Synagoge in Witten wurde zum Ziel von blindem Fanatismus.“ Laut, klar und deutlich formuliert der junge Mann seine Worte und erntet mehrfach Applaus.
„Witten hat keinen Platz für Menschenfeindlichkeit“
„Wir zeigen heute Abend, dass Witten keinen Platz für jede Art von Menschenfeindlichkeit hat“, sagt Jola. Aber auch: „Wer zu uns kommt, der muss unsere Geschichte verstehen und sie sich zu eigen machen.“ Und schließlich: „Wir haben die Pflicht, eine Welt zu schaffen, in der jeder in Frieden und Würde leben kann.“
Nach der Gedenkfeier sprechen viele den 20-Jährigen auf seine Worte an. Eine Frau ist tief bewegt und will wissen, woher San Jola kommt. Nur ein Mensch mit Migrationshintergrund könne so etwas sagen. Tatsächlich wurde der junge Wittener in Darmstadt geboren, wuchs jedoch in der autonomen Region Kurdistan, dem kurdisch besiedelten Teil des Nordirak, auf.
Wittener Schüler zeigen Ausstellung zu jüdischem Leben
Vor fünf Jahren sei er alleine nach Deutschland zurückgekehrt. Warum er seine Familie dort zurückgelassen hat, das sei eine lange Geschichte, sagt San Jola. Wir werden sie ein anderes Mal erzählen. San Jola ist jedenfalls sehr in Witten engagiert, nicht nur als Schülersprecher am Ruhr-Gymnasium. Gerade hat er sein Amt als Sprecher des Kinder- und Jugendparlaments abgegeben. Außerdem ist er politisch aktiv.
Was damals geschah
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden im nationalsozialistischen Deutschland gezielte Gewaltaktionen gegen die jüdische Bevölkerung ausgeübt – so auch in Witten.
Während Wittener Juden in Haft genommen und meist über das Polizeigefängnis Bochum in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt wurden, zündeten Nationalsozialisten die 1885 erbaute Wittener Synagoge an der damaligen Kurze Straße/ Ecke Breite Straße an.
Am Morgen des 10. November 1938 waren die Kuppel und der Innenbereich des jüdischen Gotteshauses komplett ausgebrannt. Feuerwehrleute achteten lediglich darauf, dass die Flammen nicht auf Nachbarhäuser oder das gegenüberliegende Gymnasium übergriffen. Die rassistisch motivierten Verbrechen im November 1938 bildeten den Auftakt zur Auslöschung jüdischen Lebens und der jüdischen Gemeinde in Witten.
Seine Mitschüler beschäftigen sich aktuell mit jüdischem Leben und haben aus diesem Anlass das Stadtarchiv besucht. Die Zehntklässler Robert, Helen und Finja schildern die Biografien zweier Wittener Juden. Gleichzeitig setzt das Ruhr-Gymnasium ein besonderes Zeichen: Ein Banner mit den Namen ehemaliger jüdischer Schüler wird an der Wand des Gebäudes entrollt. „Sie dürfen nicht anonym bleiben“, sagt Schulleiter Dirk Gellesch. Eine kleine Ausstellung im Flur des Gymnasiums zeigt, was die Jungen und Mädchen schon recherchiert haben. Viele strömen nach der Feier dort hinein, um sie sich anzusehen.
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Bevor der Kranz – auch auf Initiative der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und des Freundeskreises der Israelfahrer – am Gedenkstein niedergelegt wird, entzünden Schüler noch ein Licht – aus Solidarität mit Israel und um aller Opfer des Konflikts zu gedenken. David Sogoan begleitet die Feier auf der Violine. Seine Musik – auch sie geht ans Herz.
Pfarrer Claus Humbert, der sich während des Hamas-Angriffs mit einer Reisegruppe in Israel aufhielt, und Bürgermeister Lars König geben den Zuhörenden ebenfalls eindringliche Worte mit auf den Weg. „Immer wieder erschrecken wir vor dem, was wir erlebt haben und erleben, damals wie heute“, so Humbert.
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Der Bürgermeister erinnert erschüttert an die letzten antisemitischen Taten in Witten, als die Israelflagge auf dem Kornmarkt dreimal heruntergerissen und einmal besprüht wurde. Er erinnert daran, dass eine Mutter und ihre beiden Töchter aus Wittens Partnerregion Lev Hasharon offenbar unter den Geiseln seien, und dass eine junge Frau, ebenfalls aus Lev Hasharon, bei dem Festival ermordet worden sei.
Nie habe er geglaubt, dass all das jemals wieder passieren könnte. „Wir alle sind eines Besseren belehrt worden.“ Die israelische Außenpolitik wolle er nicht bewerten. „Das steht uns nicht zu.“ Doch in Deutschland, in Witten müsse sich jeder frei und sicher fühlen können. Sein Appell: „Treten Sie beherzt jedem entgegen, der sich gegen jüdisches Leben stellt.“