Witten. Die Zahnklinik und ein Wittener Altenheim arbeiten jetzt zusammen. Studenten und Bewohner profitieren davon. Doch eigentlich reicht das nicht.
„Machen Sie mal ganz weit den Mund auf“, sagt Lisa Keul zu dem Mann, der vor ihr im Stuhl sitzt. Die 26-Jährige ist Studentin der Zahnmedizin an der Uni Witten/Herdecke. Doch sie befindet sich nicht in der Klinik, sondern im Seniorenzentrum am Schwesternpark Feierabendhäuser. Der alte Herr ist dement. Lisa Keul lernt im Umgang mit ihm und anderen Bewohnern, Berührungsängste abzubauen. Die Kooperation zwischen der Zahnklinik an der Uni und dem Altenheim ist ganz neu – und für alle Beteiligten eine Bereicherung.
Die Studentin besucht das Haus an diesem Vormittag zum ersten Mal, gemeinsam mit ihrer Kommilitonin Anna Dröge (25). Beide sind im achten Semester, haben die Theorie weitgehend hinter sich und sammeln hier praktische Erfahrungen. „Es gibt schließlich immer mehr pflegebedürftige und demente Menschen“, sagt Prof. Dr. Stefan Zimmer (64), zahnärztlicher Leiter der Zahnklinik, und bei der Premiere ebenfalls vor Ort. Doch wer noch nie Kontakt zu diesen Menschen hatte, der habe vielleicht Angst davor. Zimmer: „Das ging mir als Student doch genauso.“
Ein Raum im Wittener Altenheim wird zum Behandlungszimmer
Im Altenheim jedenfalls haben sie sich auf diesen Besuch gut vorbereitet. Ein Raum in der „Dorfstraße“ wurde als Behandlungszimmer mit kleinem Wartebereich hergerichtet. Es handelt sich um einen geschützten Bereich des Hauses, in dem 24 Menschen mit mittlerer und fortgeschrittener Demenz leben. Um die 70 der insgesamt 111 Bewohner des Pflegeheims haben die Diagnose Demenz, so Leiter Andreas Vincke (59).
Ein großer, gemütlicher Sessel dient als Behandlungsstuhl. Beide Studentinnen tragen einen weißen Kittel. Der sei ganz wichtig, sagt Vincke – obwohl sein Team und er normalerweise in Zivil arbeiten. Doch zum Arztbesuch gehört ein Kittel – so kennen es die Menschen mit Demenz noch von früher. Deshalb reagieren sie recht gelassen auf die Situation. „Selbst Bewohner, die sonst manchmal Abwehrverhalten zeigen, sind jetzt lammfrom“, freut sich der Heimleiter über den gelungenen Start der Kooperation.
Wittener Studentinnen kontrollieren Zustand der Zähne
Zahnärzte behandeln auch in Seniorenheimen
Auf Anfrage kommen alle niedergelassenen Zahnärzte in Seniorenheime, erklärt Wittens Zahnärztesprecher Dr. Richard Surrey. Seit etwa drei Jahren sei mit den Kassen vertraglich geregelt, dass aufsuchend gearbeitet werden darf.
Die Altenheime seien außerdem gesetzlich dazu aufgefordert, sich Zahnärzte zu suchen, die ins Haus kommen, so Surrey. Dennoch sei ein Besuch pflegebedürftiger oder dementer Patienten in der Praxis manchmal unumgänglich. Der Sprecher: „Eine Untersuchung oder kleine Behandlungen sind im Altenheim möglich. Zähne sollten in der Praxis gezogen werden.“ Dafür stünden entsprechende Fahrdienste zur Verfügung.
Auch er hält es für unabdingbar, vor allem bei bettlägerigen oder dementen Menschen, die ins Heim kommen, auf gute Mundhygiene zu achten. „Sonst gibt es schnell wunde Stellen und Pilzbefall.“ Er regt an, das Personal entsprechend zu schulen.
Die angehenden Zahnärztinnen haben Holzspatel, Spiegel und eine Lampe dabei. Sie dürfen natürlich noch nicht bohren, kontrollieren aber den Zustand der Zähne und richten ihr Augenmerk auf Mundschleimhaut und Störstellen. „Haben Sie Schmerzen? Tut’s weh beim Essen?“ Der Bewohner, etwa Mitte 80, nickt. Da sei irgendetwas Spitzes am Zahn. Eine Wittener Zahnärztin, die regelmäßig in das Haus am Schwesternpark kommt, wird sich darum kümmern.
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Viele Bewohner hätten noch einen eigenen Zahnarzt, den sie in Begleitung Angehöriger aufsuchen, erklärt Andreas Vincke. Doch er weiß: „Je pflegebedürftiger, je dementer jemand ist, desto schwieriger ist eine zahnärztliche Behandlung.“ Martina Große Munkenbeck, Pflegedienstleiterin und gerontologische Fachkraft in den Feierabendhäusern, kann das nur bestätigen: „Auch Zähneputzen funktioniert oft nicht richtig. Und die Zahnbürste ist manchmal ein Kamm.“
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Professor Zimmer geht noch weiter. Er sagt: „Sobald ein Patient pflegebedürftig und bettlägerig ist, verschwindet er zahnmedizinisch in einem schwarzen Loch.“ Die Mundgesundheit sei dann bald so schlecht, dass nur noch eine palliative zahnmedizinische Versorgung möglich sei. Deshalb würde er mit der Zahnklinik gerne Patienten in Altenheimen in ihrer gewohnten Umgebung rechtzeitig betreuen. „Darum kämpfen wir seit Jahren, aber das dürfen wir nicht. Unsere Aufgabe sei nur Lehre und Forschung, heißt es.“
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Lisa Keul und Anna Dröge jedenfalls sind mit Begeisterung bei der Sache, gehen offen auf die Menschen zu. Sie sind sich einig: „Das ist eine super Erfahrung. Jeder Patient reagiert anders. Bei manchen merkt man gar nicht, dass sie dement sind.“ Insgesamt dauert ihr Besuch zwei Tage. Im Oktober sind die nächsten Studierenden an der Reihe. Eine zahnärztliche Kontrolle ist schließlich nicht jede Woche nötig.