Witten. Dieser Tag sollte sein Leben für immer verändern. Ein Wittener rief die Polizei, weil ihm ein Pkw verdächtig vorkam. Dann geschah das Unfassbare.
Wie sehr hatte sich Dietmar Anhorn doch auf seine Rente gefreut. Wandern, reisen, viel Zeit im Garten verbringen, einfach jeden Tag genießen. Für ein paar Monate ist ihm das auch gelungen – bis die Nacht auf den 17. Juni kam, heute vor einem Jahr. Dass der 66-Jährige überhaupt noch lebt, grenzt an ein Wunder.
Gemeinsam mit seiner Frau verbringt Anhorn damals einen gemütlichen Abend auf der Terrasse. Während sie zu Bett geht, will er bei dem lauen Lüftchen noch ein wenig draußen bleiben. Es ist kurz nach 1 Uhr, als für den Wittener der Albtraum beginnt. „Plötzlich höre und sehe ich, wie ein Auto, ein schwarzer Golf, bei uns den Weg runterschießt.“
Zeuge sieht verdächtiges Fahrzeug auf Baustelle zurasen
Das Paar wohnt am Bodenborn, nahe der Pumpstation des Ruhrverbandes, für den der Elektriker fast vier Jahrzehnte tätig war. Direkt gegenüber von seinem Haus hat sein früherer Arbeitgeber eine Baustelle eingerichtet. „Dann sehe ich, wie jemand das Schloss am Einfahrtstor aufknackt und dachte nur, die wollen was stehlen.“ Später soll es heißen, ein Dieb habe Diesel abgezapft.
Dietmar Anhorn überlegt nicht lange, ruft die Polizei. „Nach ein paar Minuten war sie auch schon da, mit zwei Wagen“; erinnert sich der Wittener. Der eine Täter sei auf der Ruhrbrücke in Bommern stehen geblieben, der andere am Eingang zur Baustelle. Anhorn, der Zeuge, beobachtet, wie vier Beamte aussteigen, sich zu Fuß auf den Weg machen, „denn da lagen überall Stahlplatten herum, ein recht unwegsames Gelände für ein Auto“.
Der Bommeraner flitzt schnell hoch zum Schlafzimmer, weckt seine Frau. Um dann gleich wieder zum Tatort zurückzukehren. Er bleibt an einem Telefonmast vor seinem Grundstück stehen, um das Geschehen aus sicherer Entfernung zu verfolgen. Mit dieser Entscheidung hadert er bis heute.
+++Keine Nachrichten aus Witten mehr verpassen: Hier geht’s zu unserem kostenlosen Newsletter+++
Plötzlich rast das Täterauto auf den Zeugen zu
Genauso plötzlich, wie der dunkle Golf auf die Baustelle zugerast war, kommt er nun wieder heraus. Polizeibeamten springen zur Seite. Ihr abgestellter Wagen versperrt den Fluchtweg. Dietmar Anhorn muss mit ansehen, wie das Fluchtauto den Baustellenzaun aus der Verankerung reißt und mit dem Gitter auf dem Kühlergrill auf ihn zurast. „Das alles geschah in Sekundenschnelle, ich konnte nicht mehr entkommen.“
Der Anwohner stürzt zu Boden, die Räder des Geländewagens rollen über seine rechte Körperhälfte. Dann bleibt das Auto stecken. Der Fahrer setzt zurück, nimmt noch einmal Anlauf und donnert ein weiteres Mal über Dietmar Anhorn hinweg – dieses Mal auch mit dem schweren Anhänger.
Lesen Sie auch:
- Tankdieb überfährt Zeugen auf Flucht: Lebensgefahr
- Tankdiebstahl: Opfer schwebt noch immer in Lebensgefahr
- Vom Diesel-Dieb in Bommern fehlt weiterhin jede Spur
Opfer liegt blutüberströmt am Boden
Opfer hat Entschädigung beantragt und wartet
Beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe hat Dietmar Anhorn Opferentschädigung beantragt und bereits zig Formulare ausgefüllt. Das Verfahren zieht sich allerdings hin. Ein LWL-Sprecher bestätigt, dass eine „umfangreiche Sachverhaltsaufklärung“ erforderlich sei, der Verband aber momentan nicht an die Schwerbehindertenakte komme.
Die liegt möglicherweise bei der Bezirksregierung. Sie entscheidet derzeit, ob das Opfer Anrecht auf einen Ausweis für einen Schwerbehindertenparkplatz hat. Der EN-Kreis hatte das abgelehnt. Begründung: In der Regel werde ein Ausweis der Merkzeichen H und aG nur erteilt, wenn Menschen dauerhaft auf den Rollstuhl angewiesen sind. Die Voraussetzung liege aber hier nicht vor, erklärte ein Sprecher.
Da er beim Ein- und Aussteigen auf einen Rollator angewiesen sei und Platz brauche, so Dietmar Anhorn, hat er Widerspruch eingelegt, den laut EN-Kreis die Bezirksregierung bearbeitet.
Während das Gespann davonjagt, ist Eva-Maria Anhorn mittlerweile draußen, ruft nach ihrem Mann. „Ich bin überfahren worden“, bringt er mit letzter Kraft heraus. Sie stürzt aus der Gartentür, findet ihn blutüberströmt auf dem Boden liegen. Als das Opfer wieder aufwacht, sind vier Wochen vergangen. Ärzte des Knappschaftskrankenhauses Langendreer hatten Dietmar Anhorn, den Notärzte noch nachts in einer dramatischen Rettungsaktion wiederbelebten, rund einen Monat lang in ein künstliches Koma versetzt.
+++Folgen Sie jetzt auch dem Instagram-Account der WAZ Witten+++
„Mein Mann schwebte die ganze Zeit über in Lebensgefahr. Die Ärzte gaben ihm eine Chance von höchstens 30 Prozent“, erinnert sich seine Frau. Wenn sie daran denkt, zittert sie noch heute. Zur langen Liste schwerster Verletzungen gehören fünf Becken- und sieben Rippenbrüche sowie ein gebrochenes Brust- und Schlüsselbein. Die Lunge war zerquetscht, innere Organe wie die Harnröhre und auch zahlreiche Nervenbahnen zerstört.
Anhorns Zustand verbessert sich erst ganz allmählich und es braucht vier stundenlange OPs, um den Vater zweier Kinder zu stabilisieren. Als er das Koma hinter sich lassen kann, „keimte große Hoffnung auf“. Doch dann folgt der nächste Schock. Gerade war er von der Intensivstation auf die orthopädische Station verlegt worden, da setzen Hirnbluten und epileptische Anfälle ein. Erneut steht eine Operation an, dieses Mal eine komplizierte Hirn-OP. Doch ein paar Schutzengel muss der Wittener dann doch gehabt haben. Er übersteht sämtliche Eingriffe und sagt heute, dass mental „nichts zurückgeblieben ist“.
Das Opfer und seine Frau leiden bis heute unter Angstzuständen
Ganz anders sieht das mit seiner Motorik aus. Er kann sich nur noch mühsam fortbewegen und braucht fast immer einen Rollator. Schmerzreich sei das Gehen alle Male, sagt Dietmar Anhorn. Er schaffe auch nur noch ein paar Meter. Trotz aller Rehamaßnahmen „bleiben Folgeschäden“. Zudem sei er weiterhin auf einen Harnkatheter angewiesen.
Doch es sind nicht nur die körperlichen Gebrechen, die das Leben so massiv einschränken und den Alltag belasten. Dietmar Anhorn und seine Frau Eva-Maria leiden unter Angstzuständen. Die Bilder dieser Nacht wollen ihnen nicht aus dem Kopf gehen. Besonders schlimm ist es, wenn wieder einmal ein Wagen etwas lauter vor ihrem Haus herfährt. „Dann zuckt man zusammen und alle Szenen sind einem wieder vor Augen“, sagt die 57-Jährige. Ihr Mann nickt zustimmend.
Immer wieder hadert er damit, ob es richtig war, Zivilcourage gezeigt und die Polizei alarmiert zu haben. Andererseits sagt der Wittener auch: „Ich konnte doch nicht tatenlos zusehen.“ Noch viel mehr bewegt das Paar die Frage, was das nur für Menschen sind, die den Wittener fast umgebracht hätten. Dass bislang alle Ermittlungen ins Leere gelaufen sind, „schmerzt uns“. Von den Tätern fehlt weiter jede Spur.
Die Polizei hatte in der Nacht den Wagen zwar noch verfolgt, „sah sich aber gezwungen, die Aktion abzubrechen“, sagt Staatsanwalt Danyal Maibaum. Die Täter flüchteten mit rund 150 km/h. Bei einem solchen Tempo auf einer dunklen Landstraße stehe auch die Sicherheit der Beamten auf dem Spiel, so Maibaum. Die Einsatzkräfte schlossen auch nicht aus, dass der Fluchtwagen auf die Gegenfahrbahn wechseln könnte und so einen weiteren Unfall verursachen würde. In Höhe von Bommerholzer/Wittener/ Durchholzer Straße verliert sich die Spur.
Verfahren wegen versuchten Mordes eingeleitet
„Aber so ein Fahrzeug mit Anhänger und einem Container kann doch nicht spurlos verschwinden“, grübelt der Familienvater bis heute. Der völlig demolierte Zaun sei doch auch gefunden worden, rund 700 Meter entfernt am Rigeikenhof, dem Haus für betreutes Wohnen. „Dass auch sonst kaum Hinweise eingegangen sind, beispielsweise aus einer Werkstatt, bei der beschädigte Wagen aufgetaucht ist, bleibt für uns ein Rätsel“, sagt das Kriminalitätsopfer.
Auf Kfz-Betriebe hatte auch der Staatsanwalt gesetzt. Man habe die Innung angeschrieben mit der Bitte, dass sich Firmen bei verdächtigen Fahrzeugen melden sollten. „Ohne Erfolg.“ Angaben zum Autokennzeichen fehlen, das Nummernschild des Anhängers war abgedeckt. Maibaum hat aber juristisch vorgesorgt. Auch wenn noch kein Verdächtiger dingfest gemacht werden konnte, hat der Staatsanwalt ein Verfahren wegen versuchten Mordes eröffnet.
Um in seinem Haus bleiben zu können, musste der schwer verletzte Dietmar Anhorn unter anderem sein Badezimmer umbauen. Die Versicherungen zahlten zwar, aber längst nicht alles. Zudem stehen häufig Arztbesuche und Therapien an. Seinem früheren Arbeitgeber, dem Ruhrverband, ist er dankbar, dass dieser einen großen Teil der Gartenpflege in den Monaten nach dem Unfall übernommen hat. Jetzt ist Sommer und draußen blühen Rosen und Lilien. Zumindest dort finden der Rentner, der sich seinen Ruhestand ganz anders vorgestellt hatte, und seine Frau noch ein paar Momente der Freude.
Zeugen können sich beim Kriminalkommissariat 33 der Polizeidirektion Bochum melden: 0234/9098305.