Witten. Fachkräftemangel, Krankheitsausfälle: Was bedeutet die Kita-Krise für jene, die mittendrin sind? Erzieherinnen aus Witten über Frust und Freude.
„Kita-Krise in NRW spitzt sich zu“: Schlagzeilen wie diese beherrschen gerade die Nachrichten. Fachkräftemangel und hohe Krankenstände machen dem System zu schaffen. Außerdem fehlen allein in Witten aktuell rund 500 Kita-Plätze. Doch was bedeutet das für jene, die den Mangel verwalten und gleichzeitig pädagogisch wertvolle Arbeit statt bloßer Verwahrung bieten sollen? Erfahrene Erzieherinnen erzählen aus ihrem Alltag – und sie haben eine Menge auf dem Herzen.
Das sagt die Leiterin der Kita Vogelnest in Witten-Heven
Eva Gohrke-Hansen (60) leitet die Kita Vogelnest in Heven. Dort werden 68 Kinder von drei bis sechs Jahren in drei Gruppen betreut. Die Erzieherin ist Leitungssprecherin im Ev. Trägerverbund für Tageseinrichtungen für Kinder im Kirchenkreis Hattingen-Witten.
Ich habe nach dem Abi eine kaufmännische Ausbildung gemacht, dann kamen vier Kinder. Ich bin in die Pädagogik reingewachsen und wollte meine biografische Erfahrung professionalisieren. Mit Kindern zu arbeiten, ist immer ein Abenteuer. Es gibt gute und schlechte Tage. Aber in den letzten Jahren haben die herausfordernden Tage überwogen.
„Viel Notfallmanagement, ein bisschen Betreuung und Erziehung“
Ich übe den Beruf aus, um Kindern und Familien begleitend zur Seite zu stehen. Das gestaltet sich gerade schwierig, weil ich dem eigenen und dem Gesetzesanspruch nicht gerecht werden kann. Laut Gesetz soll die Kita Bildung, Erziehung und Betreuung leisten. Gerade ist aber nur Betreuung und ein bisschen Erziehung angesagt. Wir machen viel Notfallmanagement, weil so viel Personal fehlt.
Während Corona haben wir gedacht: Das wird wieder. Man hatte das Gefühl, einen Marathon zu absolvieren. Aber jetzt erst schlägt der Fachkräftemangel voll zu. Das hat viele banale Gründe. Babyboomer gehen in Rente. Während der Pandemie sind manche in andere Berufe abgewandert. Auch bestimmte Behandlungen und OPs werden jetzt nachgeholt. Es gibt Mitarbeitende, die aufgrund der hohen Belastung langzeiterkrankt sind. Azubis haben während Corona die Ausbildung abgebrochen. Sie fanden den Beruf zwar ganz schön, konnten sich aber nicht vorstellen, ihn jahrelang auszuüben. Wir Erzieherinnen sind sehr leidensfähig, aber inzwischen kommen wir alle an die Grenze der Belastbarkeit.
„Wir Leiterinnen sind unsere besten Vertretungskräfte“
Wir haben inzwischen ein ausgeklügeltes System, um überhaupt mit genug Personal planen zu können. Wer krank war, muss freitags Bescheid sagen, ob er montags wohl wieder gesund ist. Wer am Wochenende krank wird, sollte sich bis Sonntagabend um 18 Uhr melden. Wir müssen ja auch die Eltern benachrichtigen, die sich schließlich auf uns verlassen. Aber wir haben auch einen Personalschlüssel zu erfüllen. Passiert etwas, dann wird sofort gefragt: Wie viele waren im Einsatz? Wer war in der Pause?
Wir Leiterinnen sind unsere besten Vertretungskräfte. Wenn die Hauswirtschaftskraft ausfällt, stehen wir auch in der Küche und spülen. Man muss starke positive Erlebnisse gegen den ganzen Stress setzen. Ich bin im Posaunenchor, gehe viel raus und bewege mich. Das hilft.
Das sagt die Leiterin des Familienzentrums Märkische Straße in Witten-Annen
Daniela Bech (38) ist Leiterin des dreigruppigen Familienzentrums Märkische Straße in Annen, in dem 60 Kinder zwischen zwei und sechs Jahren betreut werden. Sie ist ebenfalls Leitungssprecherin im Ev. Trägerverbund.
Ich habe ein Praktikum in einem Kindergarten gemacht und dachte: Da wird doch nur gespielt. Ich habe schnell gemerkt: Da passiert viel mehr und das erfüllt mich. Deshalb habe ich zwar noch BWL studiert, um etwas anderes auszuprobieren. Aber mein Herzblut gehört der Arbeit in der Kita.
Wir machen das alle gerne. Viele Kolleginnen sind gerade wirklich krank und kommen noch mit dem Kopf unterm Arm. Trotzdem bedeutet jeder Tag ein neues Rechenexempel. Es gibt keine pauschalen Regelungen, wenn jemand fehlt. Es kommt ja immer darauf an, ob das eine Fachkraft ist, ob sie in Teilzeit ist und in welcher Gruppe.
„Wir lassen uns nicht die Haare von jemandem schneiden, der das nicht gelernt hat“
Für die Eltern ist schwer nachvollziehbar, warum das in jeder Kita anders ist. Die sehen nur die Anzahl der Köpfe. Ja, wir haben inzwischen Alltagshelfer. Bei uns sind das zwei Studierende, die sieben und zehn Stunden pro Woche da sind. Das sind Zusatzhände, die uns entlasten. Aber es sind keine Vollblutpädagogen. Berufsfremde als Quereinsteiger in der Kita – von dieser Ad-hoc-Maßnahme halten wir nichts. Wir lassen und ja auch nicht die Haare von jemandem schneiden, der das nicht gelernt hat. Wir sind pädagogische Fachkräfte. Beten, singen, klatschen reicht nicht. Und für die Qualität unserer Arbeit muss ein entsprechender Rahmen geschaffen werden.
Die Politik muss die Dringlichkeit erkennen, dann können wir vielleicht in fünf bis sieben Jahren auf Besserung hoffen. Die verantwortlichen Politiker sollten mal einen Tag bei uns hospitieren. Das würde bestimmt helfen. Unser Anspruch ist es, aus Kindern mündige Erwachsene zu machen. Hier werden die Weichen gestellt. Hier muss man investieren, dann spart man später. Erleben zu dürfen, wenn Kinder Meilenschritte machen, das gibt Kraft für all die Durststrecken.
Das sagt die Leiterin der Kita St. Marien in der Wittener Innenstadt
Erzieherin und Kunsttherapeutin Anne Wenning (59) leitet die Kath. Kita St. Marien in der Innenstadt. Dort werden 65 Kinder zwischen zwei und sechs Jahren in drei Gruppen betreut.
Die personelle Situation ist auch bei uns herausfordernd. Engpässe konnten bislang einigermaßen aufgefangen werden. Allerdings ist seit Januar die Stelle einer Ergänzungskraft frei und es hat sich noch keiner gemeldet. Solche Stellen sind schwieriger zu besetzen als Fachkraftstellen. Man verdient weniger, hat weniger Verantwortung. Darauf bewirbt sich keine Erzieherin. Aber auch bei Fachkräften wird es schwieriger.
Anfang des Jahres hatten wir auch wieder mit Corona-Wellen zu kämpfen, mehrere Erzieherinnen waren erkrankt. Auch unsere Kinder sind oft krank – und wir dann zwangsläufig ebenfalls irgendwann. Das kommt häufiger vor als sonst. Das Immunsystem muss sich erst aufbauen.
„Quereinsteiger nur als Notlösung“
Quereinsteiger als Sofortmaßnahme, wie die Politik es vorschlägt – das sehe ich nur als Notlösung, wenn sonst das System zusammenbrechen würde. Unser Beruf ist sehr umfangreich. Da hat sich vieles geändert: längere Betreuungszeiten, jüngere Kinder, anderer Bildungsauftrag, umfangreiche Dokumentationen. Das macht den Beruf spannend. Aber es bedeutet auch einen Spagat. Man muss so viele Bereiche mit zu wenig Personal abdecken. Da steckt viel Engagement und Kraft drin. Die Eltern wissen das zu schätzen. Dennoch fehlt die gesellschaftliche Akzeptanz.
Wir sind noch nicht frustriert. Aber es muss einiges neu gedacht werden, damit die Krise sich nicht weiter zuspitzt.
Das sagt das Leitungs-Team der Kita Helfkamp in Witten-Stockum
Nicole Ikenmeyer (45) leitet die städtische Kita Helfkamp in Stockum. Ihre kommissarische Stellvertreterin ist Heike Stasch (54). In der Kita werden 75 Kinder ab einem Jahr in vier Gruppen betreut.
Nicole Ikenmeyer: Tatsächlich ist die Situation bei uns gar nicht so schlimm. Es gibt keine offenen Stellen. Und von den 15 Mitarbeitenden haben neun eine Vollzeitstelle. Da können wir unseren Kita-Tag, der von sieben bis 16 Uhr dauert, gut abdecken. Womit wir nach Corona aber zu kämpfen haben, das sind Krankheitsausfälle. Es war eine unfassbar anstrengende Zeit. Die Leute sind jetzt gestresster, gereizter, länger krank. Wenn dann noch jemand im Urlaub ist, wird’s doch kritisch. Da müssen wir auch mal Betreuungszeiten reduzieren. Das kommt aber selten vor, zuletzt Mitte März zwei Tage lang. Der Personalschlüssel müsste grundsätzlich höher sein.
Wir haben eine Alltagshelferin, die vier Stunden pro Tag da ist. Sie unterstützt in allen nicht-pädagogischen Belangen. Das hilft uns enorm. Wir hoffen sehr, dass Alltagshelfer in den Kitas bleiben dürfen. Die Maßnahme läuft eigentlich zum 31. Juli aus.
Wir versuchen, die Kinder nicht spüren zu lassen, wenn es schwierig wird. Sie dürfen nicht die Leidtragenden sein.
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Heike Stasch: Viele Kinder sind auffälliger geworden. Ich betreue die Vorschulkinder. Ich habe in den 35 Jahren, die ich im Beruf bin, noch nie Kinder zurückgestellt. Jetzt sind es drei, die noch nicht reif für die Schule sind. Auch diese Verhaltensauffälligkeiten sorgen dafür, dass der Job stressiger wird. Azubis bekommen das mit und bleiben in der Regel nicht. Der Job müsste einfach besser bezahlt werden, das ist ein Grundproblem. Viele Eltern haben uns nach der Coronazeit gesagt: Jetzt wissen wir, was ihr hier leistet.
Nicole Ikenmeyer: Berufsfremde Quereinsteiger in der Kita? Bitte nicht. Das darf nicht sein. Das entwertet unseren Beruf. Wir haben einen wichtigen Job. Unsere Zukunft läuft auf zwei Beinen herum. Dass angesichts des Fachkräftemangels trotzdem noch weitere Kitas gebaut werden, ist toll. Aber wo kommen die Erzieher dafür her?
Damit man die oftmals stressigen Tage einigermaßen bewältigen kann, kommt es auf die Grundstimmung im Haus an – und die ist bei uns sehr positiv. Wir sorgen mit kleinen Aufmerksamkeiten oder Ausflügen dafür, dass es so ist. Ein gutes Klima ist wichtig. Dann kriegen wir diese Krise auch noch rum.
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