Oberhausen. .
Alisa Grigorian lässt sich nicht unterkriegen: Aus Armenien floh sie vorm Krieg. In Deutschland kämpfte sie zwei Jahre um ihre Tochter. Jetzt verlor die alleinerziehende Mutter ihren Job als Verkäuferin wegen einer Lappalie. Doch sie kämpft weiter.
Die Wohnungstür steht offen, der Blick fällt auf den kahlen Putz der Wände. Die Tapeten: schon abgerissen. Nur das Esszimmer, das hat Alisa Grigorian noch mal gemütlich hergerichtet, obwohl der Umzug in vollem Gange ist. Die Kaffeetafel ist gedeckt, die selbst gemachte Panna Cotta steht im Kühlschrank – für später. Für den Besucher von der Zeitung hat die 44-Jährige sich mächtig ins Zeug gelegt. Wieder einmal.
15 000 Euro Abfindung erstritten
Die Oberhausenerin Alisa Grigorian hat vor Gericht eine Abfindung von 15 000 Euro erstritten. Eigentlich hatte sie gar auf Weiterbeschäftigung geklagt, die Aussichten auf Erfolg waren gut. In der kurzen Beratungspause aber hörte die Mutter auf ihre älteste Tochter: „Du hast für Gerechtigkeit gekämpft, dein Chef hat deine Arbeit nicht verdient.“ Was für ein Spießrutenlauf wäre es vielleicht gewesen, als streitbare Mitarbeiterin in den Markt zurückzukommen? Alisa Grigorian nahm die Abfindung – auch weil sie es nicht ertragen hätte, wenn anstatt ihrer eine Kollegin hätte gehen müssen. Das wollte sie nicht. Vor Gericht hat sie auch für sie gekämpft – damit der Chef sie in Zukunft besser behandelt.
Alisa Grigorian stammt aus Armenien, wird in der Hauptstadt Jerewan geboren. Sie wächst mit zwei Geschwistern in harmonischen, gut bürgerlichen Verhältnissen auf. Die Mutter hat ihre eigene Schneiderei, der Vater verdient gutes Geld als Großhandelslieferant. Die Familie besitzt Eigentumswohnungen in Jerewan und Moskau, dazu ein Landhäuschen. Alisa Grigorian macht ihren Abschluss als Diplom-Ingenieurin der Informatik, mit Schwerpunkt in der Automatisierungstechnik.
Flucht vor dem Krieg
Eigentlich gute Startvoraussetzungen für eine Familiengründung. Der Mann, ein Komponist, die Töchter Susanna und Sofi kommen zur (heilen) Welt. Ende der 1980er dann, nach einem Erdbeben zuvor, die zweite Erschütterung: Krieg. Aserbaidschan und Armenien streiten um Bergkarabach. Der Schwager kommt um – im Alter von 18 Jahren. Alisa ist zum dritten Mal schwanger – mit Sohn Artur. Da fällt der Entschluss der Familie: Die Kinder sollen nicht im Krieg aufwachsen.
Über Moskau gelingt die illegale Ausreise, auch weil die Familie 3000 Dollar Bestechungsgeld pro Person für Visa aufbringt. Zuerst gehen Großeltern, Susanna und Kinder von Alisas Geschwistern auf die Reise und landen in Bremen. Sechs Monate später, Nahrung und Brennstoffe sind knapp, folgen Alisa mit Mann und beiden kleinen Kindern.
Kampf um die eigene Tochter
Die Ausländerbehörde schickt die Vier weiter ins ostwestfälische Lübbecke – kaserniert im Übergangslager, auf engstem Raum, ohne Privatsphäre. Und weiter getrennt von Tochter Susanna. Zur Sicherheit hatten die Großeltern das Mädchen adoptiert, die Behörde stellte sich quer und ließ Susanna nicht aus Bremen weggehen. „Zwei Jahre habe ich gekämpft bis ich mein eigenes Kind wiederbekommen habe“, erzählt die 44-Jährige.
Nächste Station: eine Asylbewerberunterkunft an der Waisenhausstraße in Osterfeld. Alisa will arbeiten, will nicht auf Kosten des Staates leben, der den Aufenthalt ihrer Familie zumindest duldet. In der Zeitung stößt die Diplom-Ingenieurin auf eine Putzstelle bei Kinderarzt Dr. Köster, privat und in der Praxis. Der will sie gleich als Arzthelferin: „Sie sind doch eine intelligente Frau, warum wollen Sie putzen?“ Geduldeten Flüchtlingen ist die Arbeitsaufnahme aber nur erlaubt, wenn sich niemand anderes findet. Wieder ein Kampf.
Einen Job, um die gesamte Familie zu ernähren
Dem Doktor ist die Armenierin noch heute sehr verbunden für sein Engagement. Alle sechs Monate steht er mit ihr die immer gleiche Prozedur im Amt durch, um die Arbeitserlaubnis verlängert zu bekommen. Alisa schämt sich dafür, der Doktor besteht darauf zu helfen. Drei Mal klappt’s, dann lehnt das Amt ab. Wieder auf der Suche. Eine Seniorin sucht eine Gesellschafterin, die auch einkauft und kocht. Morgens, mittags, abends, wenn’s sein muss: auch nachts. Alisa Grigorian umsorgt die Dame bis diese stirbt. Besorgt sich dann den Job bei Rewe in Mülheim-Styrum. Die Stelle ist im Amt ausgeschrieben, die Bewerberin schreibt aber gar keine Bewerbung, sie packt ihre Unterlagen zusammen und stellt sich direkt beim damaligen Marktleiter vor. Die Chemie stimmt, sie kriegt den Job. Die Marktleitung wechselt, nach acht Jahren ist nun aus bekannten Gründen Schluss. „Ich war keinen Tag arbeitslos, ich werde schnell wieder was finden.“
Die 44-Jährige hat gelernt, schwierige Situationen zu meistern. Ihr Mann konnte wegen einer Krankheit nie arbeiten, mit 1600 Euro netto plus Kindergeld hat sie die fünfköpfige Familie ganz alleine ernährt. Tochter Susanna (23) hat ihren Bachelor in Romanistik und Philosophie in der Tasche, arbeitet als studentische Hilfskraft und will jetzt zwei Master-Abschlüsse nachlegen. Sofi (19) baut ihr Fachabi im Sozialwesen und verdient etwas Geld bei der Betreuung benachteiligter Kinder. Artur (17) holt seine Quali für die Oberstufe nach.
Alles für die Kinder
Weil ihr die Bildung der Kinder über alles geht. Sie sollen es künftig gut haben. Dafür hat die Mama zurückgesteckt. „Sie selbst leistet sich nichts, sie gibt alles für die Familie“, sagt Sofi. „Sie hat immer erst 20 000-mal überlegt, bis sie mal zum Friseur gegangen ist.“ Urlaub? Nur für die Kinder. „Auf so eine Mutter kann man stolz sein.“ Das ist Susanna auch. Alisa Grigorian will weiter so handeln - „bis die Kinder auf eigenen Füßen stehen.“ Sie selbst sucht jetzt einen neuen Job, hat sich die Haare gefärbt, eine neue Wohnung gefunden. „Ein bewusster Neustart“, sagt die 44-Jährige. Und: „Ich habe goldige Kinder, sie haben mir immer Kraft gegeben.“ Dann tischt sie die Panna Cotta auf. Verdammt lecker. Mit Liebe gemacht.