Oberhausen. Nach Kritik und Boykottdrohungen eröffnen die 70. Kurzfilmtage in Oberhausen hintersinnig mit einer Tagung - und einem Vorzeige-Intellektuellen.
Für die Autoren der Boykott-Kampagne gegen die Internationalen Kurzfilmtage - und namentlich gegen ihren Leiter Lars Henrik Gass - dürfte dieser prominente Denker nur ein weiterer „alter weißer Mann“ sein. Und damit abgehakt. Doch neben Hans-Magnus Enzensberger (1929 bis 2022) und dem Ausstellungen, Bücher und Filme schaffenden Allround-Vordenker Alexander Kluge (92) darf sich der 87-jährige Philosoph Bazon Brock zu den Vorzeige-Intellektuellen der (alten) Bundesrepublik zählen. Sein „Keynote“ genannter Vortrag eröffnet am Mittwoch, 1. Mai, eine hochkarätige Tagung mit dem hintersinnigen Titel „Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit“.
Noch vor der eigentlichen, abendlichen Eröffnung der 70. Kurzfilmtage im angestammten Festivalkino, der Lichtburg, stellt sich das Traditionsfestival, das im November vehement von Befürwortern der antiisraelischen BDS-Kampagne (für Boykott, Desinvestment, Sanktionen) angegangen worden war, auf seine ureigene Art der Debatte - und zwar in der geräumigen Halle des Vereins für aktuelle Kunst im Zentrum Altenberg. Übersetzt meint das „sehnsuchtsvolle“ Motto wohl: Dulden bestimmte Kulturschaffende keinen Widerspruch mehr?
Schließlich ist die Liste der Kampagnen-Ziele im Kulturleben bereits erschreckend lang: Documenta in Kassel, Museum Folkwang in Essen, Ruhrtriennale und eine ganze Reihe von Institutionen in der Hauptstadt wie Berlinale, Neuer Berliner Kunstverein, Hamburger Bahnhof, Universität der Künste – die Liste ließe sich beliebig verlängern. Die Tagung am 1. Mai, beginnend mit Bazon Brock um 13 Uhr, fragt nach den eigenen und den gesellschaftlichen Ansprüchen an die Kultur. Zu Wort kommen Praktikerinnen und Theoretiker, Autorinnen und Wissenschaftler.
Auseinandersetzungen mit Sexismus, Rassismus und anderen Formen von Menschenfeindlichkeit - so die Kurzfilmtage in ihrer Ankündigung - führten in den vergangenen Jahren zur kritischen Überprüfung von Kulturinstitutionen. Insbesondere die parlamentarischen Erfolge der AfD mündeten zudem im Anspruch an die Kulturschaffenden, sich politischen Debatten zu stellen. Doch immer häufiger ist von dem ursprünglich durch rechte Akteure eingeführten Begriff „Cancel Culture“ die Rede - als wäre eine „Kultur des Abschaffens“ nicht ein Widerspruch in sich.
Boykottaufrufe und in den „sozialen“ Medien rasant organisierte Proteste verunsichern die Bedrängten. Wo zunehmend mit Mitteln der Skandalisierung gearbeitet wird, um Druck auszuüben, wird aus einer offenen Debatte der Zwang zu Konformismus. Daher fragen die Gastgeber des bald 70-jährigen Traditionsfestivals: „Kommt die größte Gefahr für kritische Diskussionen über den Umgang mit politischen Themen innerhalb des Kulturbetriebs aus dem Kulturbetrieb selbst?“
Vom 2. bis 5. schließt sich an diese Eröffnung eine Diskussionsreihe zur Frage „Wozu Festivals?“ an, dann im intimeren Rahmen der „Festival Space“ genannten Galerie KiR , Elsässer Straße 21. Die mehrfache Hundertschaft der Filmfestivals - und sicher auch Kulturfestivals anderer Sparten - verbinden mit ihren umfassenden Angeboten die Hoffnung, politische Spaltung durch Verständigung und künstlerischen Fortschritt zu überwinden. „Dieses Vorhaben ist erkennbar in eine Krise geraten“, befürchten die Festival-Gastgeber.
Wirtschaftliche Bedingungen für Filmfestivals verschlechtern sich rasant
Mit dem Wandel der Filmkultur und des Kinofilms sehen sich auch die Festivals mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Zugleich verschlechtern sich nach Pandemie und Kriegsfolgen die ökonomischen Bedingungen von Filmfestivals rasant. Daher kreisen die vier Vormittage im „Festival Space“ vom 2. bis 5. Mai um die Frage, was vom ursprünglichen Selbstverständnis von Filmfestivals noch geblieben ist und ob und wie Festivals ihren Auftrag noch erfüllen können.
Der Eintritt zur Reihe „Wozu Festivals?“, moderiert von Dunja Bialas, Filmkritikerin und selbst erfahrene Festival-Gründerin von „Underdox“ in München, ist kostenfrei - ebenso die Tagung „Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit“.