Oberhausen. Filmkritiker und Festivalkenner verurteilen „Klimavergifter“, die übers Ziel hinausschießen. Sollte man stattdessen die Boykotteure boykottieren?
Wollte man sarkastisch sein, könnte man Lars Henrik Gass zu seinem Coup gratulieren: Seit Jahren fanden die Internationalen Kurzfilmtage unter seiner Leitung nicht mehr eine derart prompte und umfassende Medien-Resonanz wie jetzt nach dem Boykottaufruf einer ominösen „International Film Community“, deren Namensliste noch immer etwas länger wird.
„Unter umgekehrten Vorzeichen“, so die weit ausholende Deutung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), lasse dieser jüngste Boykottaufruf in der Kulturszene „Konstellationen erkennen, die im Vorjahr auch die Documenta geprägt haben“. Nun ja, bei der skandalösen Weltkunstschau in Kassel war es das indonesische Künstlerkollektiv „ruangrupa“, das sich als Kuratoren-Team die antisemitischen Werke höchstselbst ausgewählt hatte. FAZ-Autor Bert Rebhandl sieht durchaus eine Ähnlichkeit in der langen Historie der bald 70-jährigen Kurzfilmtage, denn: „In Oberhausen waren nicht erst unter Gass immer schon auch viele Filme zu sehen, die wie politische Flugschriften funktionieren.“ Tatsächlich sind ja einige Unterzeichner des Boykott-Pamphlets frühere Kufita-Gäste oder Filmschaffende, die hier ihre Werke eingereicht hatten. „All das sind Aspekte“, so der FAZ-Autor, „über die es sich unbedingt lohnen würde, eine Debatte zu führen“.
Im Münchner Online-Filmmagazin „Artechock“ vermisst Rüdiger Suchsland die Solidarität der Filmfestivals – und von denen gibt es schließlich allein in Deutschland über hundert, bis hin zum erst vor neun Jahren gegründeten Neuling des „Allgäuer Filmfeschdival“. Schließlich dürften die vom Autor pointiert benannten „Klimavergifter“ es nicht allein auf den derzeit brennenden Nahost-Konflikt absehen: Es gäbe jede Menge Themen, „um die selbst ernannten neuen Sittenwächter der internationalen Kulturcommunity zu triggern“. Der „Artechock“-Kommentar legt den Festivals – und zwar allen – nahe, derlei Initiatoren und Unterzeichner von ihren Events auszuschließen. Ist das die Lösung: die Boykotteure boykottieren?
Antisemitismus: akzeptiert und progressiv?
Die Filmkritikerin Dunja Bialas, selbst erfahrene Festival-Gründerin von „Underdox“ in München, verweist auf eine gefährliche Nostalgie unter linken Kulturschaffenden, die sich „zusammensetzt aus der Gemengelage von Post-Kolonialismus und 70er-Jahre-Solidarität mit der säkularen PLO“. Das homophobe, frauenfeindliche und in jedem Sinne hasserfüllte Weltbild der islamistischen Hamas werde ausgeblendet. Dunja Bialas sieht „Kampagnen, die über jede Verhältnismäßigkeit hinausschießen, gegen Leiter von Festivals, deren erklärtes Ziel der demokratische Austausch und die Meinungsvielfalt ist“.
In einem Interview der „tageszeitung“ sagt die junge jüdische Autorin Dana von Suffrin mit erschreckender Selbstverständlichkeit: „Es ist natürlich so, dass der Kulturbetrieb als Ganzes wahnsinnig antisemitisch geworden ist. Das bedeutet nicht, dass alle das sind. Aber es hat sich eine Art von Antisemitismus etabliert, die akzeptiert wird und als progressiv gilt.“ Die 38-jährige Münchnerin selbst wehrt sich mit Humor – und stellt fest, dass „woke“ Dogmatiker damit überhaupt nicht umgehen können: „Die wollen unter sich bleiben und sich endlos gegenseitig bestätigen.“
Fazit: Wenn solche Art Filmschaffende den Kurzfilmtagen 2024 den Rücken kehren, könnte das womöglich einen Einbruch bei der Quantität bedeuten – aber wäre das ein Schaden?