Oberhausen. Die Wiedererweckung des Theaters Oberhausen glückt mit der so werkgetreu wie hingebungsvoll gespielten Nachlass-Entdeckung von Anna Gmeyner.

„Das Herz ist ein einsamer Jäger“ – ja doch, der Titel stammt von Carson McCullers, aber er trifft zielsicher auch den verzweifelnden Helden in „Welt überfüllt“ von Anna Gmeyner. Den rund 90 Jahre alten Text aus dem Nachlass der Autorin brachte Thomas Ladwig jetzt zum Start von Kathrin Mädlers Intendanz zur zweieinhalbstündigen Uraufführung. Und Philipp Quest als Bauarbeiter Hans Tormann ist jener einsame Jäger, der als Zeuge eines nächtlichen S-Bahn-Raubes verbissen dem Täter nachspürt.

Sehr gut besucht war die erste Premiere im großen Haus unter der Intendanz von Kathrin Mädler: die Uraufführung von „Welt überfüllt
Sehr gut besucht war die erste Premiere im großen Haus unter der Intendanz von Kathrin Mädler: die Uraufführung von „Welt überfüllt" im Theater Oberhausen am Freitag, 30. September 2022. © FUNKE Foto Services | Kerstin Bögeholz

Doch das wäre nur eine, noch dazu die oberflächlichste Lesart dieses ambitionierten Panoramas vom Berlin der Weltwirtschaftskrise – in dem sich der Räuber zudem erst in der Schlussszene stellt. Für diese (noch etwas zu straffende) Wiederentdeckung bietet das Theater Oberhausen alles auf: Elf aus dem Ensemble übernehmen sage und schreibe 30 Rollen und stemmen mit Bravour die Textmasse einer, wie es so schön heißt, werkgetreuen Inszenierung. Dass daraus ein großteils bezwingender Abend wurde und keine literaturhistorische Anstrengung, ist – wie es sich für großes Theater gehört – das Verdienst Vieler.

Kellerbar-Mephisto Paul (Daniel Rothaug) auf dem Sprung: „Moral ohne Brieftasche ist nur was Halbes, da wollte er erst mal die Brieftasche.“
Kellerbar-Mephisto Paul (Daniel Rothaug) auf dem Sprung: „Moral ohne Brieftasche ist nur was Halbes, da wollte er erst mal die Brieftasche.“ © Theater Oberhausen | Jochen Quast

Oberhausens neue Chefausstatterin Franziska Isensee hat daran, als Kostüm- wie Bühnenbildnerin, einen beträchtlichen Anteil, nachdem sie schon den „Gute Hoffnung“-Eröffnungsabend der Spielzeit zu einem Hingucker gemacht hatte. Nicht nur die beiden Liebespaare im Zentrum der Handlung kleidet sie vortrefflich in einer Anverwandlung des 1920er Looks für das 21. Jahrhundert. Allenfalls könnte man sagen: viel zu schick für die allen an die Gurgel greifende Armut dieser, wie es damals hieß, „kleinen Leute“.

Der Kellerbar-Mephisto im langen Brokatmantel

Doch es beginnt ja auch sommerlich-leicht mit einem zart, nicht gehässig karikierten Sonntagsausflug aufs Land. Dafür reicht Franziska Isensee ein Bäumchen inmitten der vielen Ebenen eines Stangengerüsts, das tief blicken lässt, und wie es die Bühnenbildner-Avantgarde schon Ende der 1920er (übrigens auch schon in Oberhausen) einzusetzen wusste. An der Picknickdecke lernen sich Ursel und Erich kennen: die junge Violinistin (Franziska Roth) und der schüchterne Kunststudent (Tim Weckenbrock), den der jähe Absturz seines bürgerlichen Elternhauses schockiert und zur panischen Arbeitssuche treibt. Hans und Nelly (Ronja Oppelt) sind bereits ein alltagsbewährtes Paar.

Ihr Entertainer am Seeufer ist Paul Immergrün: Daniel Rothaug lässt die zwielichtige Gestalt im langen Brokatmantel nicht nur als Sänger zur Ukulele groß auftrumpfen. Die Schurkenrolle ist, wie so oft, doch die schönste. Denn natürlich gehören diesem Kellerbar-Mephisto nicht nur die eingängigsten und giftigsten Sätze: „Wenn Ihnen das Geld schmutzig vorkommt, dann geben Sie es aus.“ Der „übergeschnappte Zuhälter“ explodiert auch in der aufs Finale zurasenden Gewaltszene als wäre er ein Mafia-Handlanger von Robert De Niro.

„Auf nüchternen Magen zehn Tropfen Glück!“

Die beiden jungen Paare in „Welt überfüllt“ ringen dagegen eher mit sich als mit anderen. Der unter seiner inneren Bürgerlichkeit zusammenklappende Schlacks Erich – „Ich hab keine Ellbogen, ich pass nicht in die Zeit“ – will ins Wasser gehen. Selbst das misslingt. Ein weltweiser Arzt mit Praxis im Gartenlokal verschreibt ihm die still-souveräne Ursel als Rezept: „Heute Abend auf nüchternen Magen zehn Tropfen Glück!“

Das Bühnenbild-Gestänge für „Welt überfüllt“ war schon in den 1920ern ein modernistischer Coup. Regisseur Thomas Ladwig weiß die Drehbühne darunter effektvoll einzusetzen – und Franziska Roth spielt als Ursel die Violine ohne Double.
Das Bühnenbild-Gestänge für „Welt überfüllt“ war schon in den 1920ern ein modernistischer Coup. Regisseur Thomas Ladwig weiß die Drehbühne darunter effektvoll einzusetzen – und Franziska Roth spielt als Ursel die Violine ohne Double. © Theater Oberhausen | Jochen Quast

Das Glück von Nelly und Hans droht indes an seiner Arbeitslosigkeit zu zerbröseln. Anna Gmeyner zeigt diesen mahlenden Druck in eindringlich gespielten Szenen. Als das Fräulein aus dem Krawattenladen den vermeintlich solventen Direktor Henschke in ihr Zimmer lässt, hat auch Torsten Bauer seinen großen Auftritt: Der längst ebenfalls ruinierte Großsprecher klammert sich wie ein nacktes Kind an die mit ihrem Ekel ringende Nelly. Natürlich stürmt auch Hans in diese Szene. Wie sie, schließlich allein, vor dem blanken Heizkörper kauert, gerät zu einem ikonischen Bild ihrer und womöglich unserer Zeit.

Auch fürs Große Haus sind Masken empfohlen

Weitere Aufführungen von „Welt überfüllt“ im Großen Haus folgen am Mittwoch, 5., Sonntag, 16., Freitag, 21., Samstag, 22., Mittwoch, 26., Freitag, 28. und Samstag, 29. Oktober. Dauer: zweieinhalb Stunden mit Pause. Karten kosten von 11 bis 23 Euro, ermäßigt 5 Euro. Das Theater Oberhausen empfiehlt auch im Großen Haus das Tragen von FFP2-Masken.

Karten gibt’s unter 0208 8578 184, per Mail an service@theater-oberhausen.de

„Die Wenns und die Vielleichts, das ist wie ein Irrgarten auf dem Jahrmarkt“, sagt der joviale Zyniker Paul Immergrün – und verrät Hans schließlich die Adresse des S-Bahn-Räubers. In der Schlussszene erkennt der einsame Jäger im Gejagten schließlich ein Spiegelbild seiner selbst. „Es liegt nicht an der Welt, die ist gut. Aber sie ist in schlechten Händen.“ Der Applaus in einem endlich wieder nahezu ausverkauften Großen Haus war hochverdient.