Oberhausen. „Kissyface“ reagiert mit Highschool-Kleinkrieg auf Trumps Putschversuch. „Welt überfüllt“ zeichnet, hochaktuell, die Not der Weltwirtschaftskrise.
Mit gleich zwei Uraufführungen dürfte Kathrin Mädlers Oberhausener Spielzeit-Auftakt auch im bundesweiten Feuilleton aufmerken lassen. Ihre eigene Inszenierung, „Kissyface“ von Noah Haidle, ist sogar bereits die zweite Regiearbeit der Intendantin – nur zwei Wochen nach dem gefeierten Einstand mit dem Liederabend „Gute Hoffnung“. Mehr noch: Die deutschsprachige „Kissyface“-Premiere kommt sogar dem US-Original zuvor. Und die einen Tag später folgende Uraufführung im Großen Haus, „Welt überfüllt“, bringt den Text der Exilautorin Anna Gmeyner fast hundert Jahre nach seiner Entstehung erstmals auf die Bühne.
Für das Programmheft bearbeitete Gestalter Götz Gramlich ein Foto jenes „Schamanen“, der am 6. Januar 2021 mit Büffelhornkappe ins Kapitol von Washington gestürmt war, um „Kissyface“ zu illustrieren – eine Interpretation des Dramas, der Kathrin Mädler zustimmt: Noah Haidle, der auf deutschen Bühne erfolgreiche 44-Jährige, der in seiner Heimat als Schauspielautor noch zu entdecken ist, spiegelt die Zerrissenheit der heutigen USA im „Bürgerkrieg“ an einer Highschool – und zwar jener von East Grand Rapids, seinem 10.000-Seelen-Heimatstädtchen in Michigan.
Noah Haidle, sagt Kathrin Mädler, „hat einen empathischen Blick auf Außenseiter und zarte Figuren. Der Schmerz, sie untergehen zu sehen, treibt dieses Stück.“ Die vor der brutalen Gegenwart, wie sie die Trump-Figur des Schulrektors verkörpert, eingekapselte Außenseiterin ist hier die Schulbibliothekarin Miss P. (Susanne Burkhard). Inmitten ihres Bücherrefugiums sind Bühne und die Stühle für 68 Zuschauer eingerichtet – „kein Guckkasten, sondern ein immersiver Raum“, so die Intendantin.
Schlachtenlärm des schulinternen Bürgerkriegs
In diesen schwer sinnbildlichen Ort der (demokratischen) Bildung dringt der Schlachtenlärm des schulinternen Bürgerkriegs mit all jenen Typen, die auch das deutsche Publikum aus zahllosen Highschool-Filmen kennt: vom Nerd und Mauerblümchen, bis zur Klassenbesten, die sich in eine indoktrinierte Kampfmaschine verwandelt. So dramatisch sich dieser Action-getriebene Plot lesen mag – Kathrin Mädler verweist ausdrücklich auf Noah Haidles „absurden und trockenen Humor“, der ihm schon Vergleiche mit Tschechow eingetragen hat.
Bei Anna Gmeyners erst im Nachlass wiederentdeckten Werk liegt ein Vergleich mit Hans Falladas „Kleiner Mann – was nun?“ auf der Hand, geht es doch auch in „Welt überfüllt“ um die Suche nach dem kleinen Glück angesichts der Verheerungen der Weltwirtschaftskrise. Die gebürtige Wienerin (1902 bis 1991) habe ihr Schauspiel angefüllt mit „warmherzig gezeichneten Figuren“, wie Regisseur Thomas Ladwig sagt. „Da docke ich an.“ Tatsächlich ist in die beiden Uraufführungen dieser Woche das gesamte Ensemble von zehn Schauspielerinnen und neun Schauspielern eingebunden.
Anders als bei Fallada, der sich ganz auf die Zweisamkeit des „kleinen Mannes“ und seines „Lämmchens“ konzentrierte, schuf die Autorin aus jüdischer Familie, die seit 1933 zunächst in Zürich weiterarbeitete um schließlich in England zu leben, ein üppiges Großstadtpanorama inklusive eines Krimiplots, in den sie ihre beiden Liebespaare verwickelt. „Sie schrieb mit großer Lust am Theater“, so sieht’s Thomas Ladwig, „und wollte etwas ausprobieren“. Dafür dürfen im Großen Haus nicht nur elf Darsteller zum Einsatz kommen, darf Ausstatterin Franziska Isensee ins Flair der Zwischenkriegszeit eintauchen und die Drehbühne rotieren.
Kompromisse eingehen mit der eigenen Moral
Juri Kannheiser komponierte einen atmosphärischen Soundtrack für diesen zweieinhalbstündigen Abend, an dem Franziska Roth vom Ensemble zudem live die Violine spielt. Allerdings sind die Fragen, die Anna Gmeyner vor über 90 Jahren aufwirft, höchst gegenwärtige angesichts dieser Krisen-2020er. Dramaturgin Saskia Zinsser-Krys formuliert’s so: „Wann muss ich Kompromisse eingehen mit der eigenen Moral?“ Und Thomas Ladwig, der für Kathrin Mädler bereits in Memmingen inszenierte, sagt: „Sie hat Herausforderungen für uns geschrieben.“
Ein Dutzend Aufführungs-Termine im Oktober
Die Premiere von „Kissyface“ steigt am Donnerstag, 29. September, um 19.30 Uhr im Studio (das bisher als Saal 2 firmierte). Karten kosten 20 Euro, für die weiteren Aufführungen 15 Euro, ermäßigt 5 Euro. Im Oktober folgen weitere Termine am Sonntag, 2., Samstag, 8., Samstag, 15., Sonntag, 23. und Freitag, 28. Oktober. Dauer: Eindreiviertel Stunde.
Die Premiere von „Welt überfüllt“ beginnt am Freitag, 30. September, um 19.30 Uhr im Großen Haus. Karten kosten von 12 bis 32 Euro, für die weiteren Aufführungen von 11 bis 23 Euro, ermäßigt 5 Euro. Die Oktober-Termine folgen am Mittwoch, 5., Sonntag, 16., Freitag, 21., Samstag, 22., Mittwoch, 26., Freitag, 28. und Samstag, 29. Oktober. Dauer: zweieinhalb Stunden mit Pause.
Karten gibt’s unter 0208 8578 184, per Mail an service@theater-oberhausen.de