Oberhausen. Jahrelang übernehmen Familienmitglieder wichtige Teile der Pflege ihrer im Seniorenheim lebenden Angehörigen. Denn es fehlt an Personal.

Der Personalmangel in den Senioreneinrichtungen hat aus einer Not ein perfides System gemacht. Angehörige werden nach Erfahrungen von Betroffenen längst nicht nur in Oberhausen, sondern im gesamten Bundesgebiet als unentgeltliche und unfreiwillige Hilfskräfte gezielt in die Abläufe der Pflegeheime einkalkuliert. Auf der Strecke bleiben alle, die sich kümmern – und das sind noch immer größtenteils Frauen. Hier sind die Geschichten einer Ehefrau und einer Enkelin.

Die 50-jährige Enkelin Susan (Name geändert) erzählt: „Meine Oma war eine feine Frau. Ich will damit nicht sagen, dass sie reich war. Das war sie nicht. Aber sie hatte eine feine Gesinnung. Sie hat den Zweiten Weltkrieg erlebt und nachdem sie diese furchtbare Zeit überstanden hatte, hatte sie beschlossen, respektvoll und achtsam mit allen Menschen umzugehen.“ Laute Worte habe es nie gegeben. Selbstständigkeit und die Pflege ihres Äußeren seien für die alte Dame selbstverständlich gewesen.

Bis zu ihrem 95. Lebensjahr lebte sie in ihrer eigenen Wohnung. Unterstützung von Nachbarn und Familie nahm sie nur widerwillig an. „Ihr seid doch auch alle berufstätig“, begründete sie ihren Entschluss, ihre Wohnung aufzugeben und in ein Seniorenheim in der Nachbarschaft zu ziehen. „Aus meinem Fenster dort kann ich in den Garten meines Sohnes sehen“, habe sie lächelnd erzählt. Außerdem lebten in dem Haus bereits einige ihrer alten Freundinnen und Bekannten.

Mit Schlabberlatz am Mittagstisch

„Als ich meine Oma dort das erste Mal besuchte, saß sie mit acht anderen alten Menschen an einem großen Esstisch – alle hatten riesige Schlabberlatze um den Hals hängen, die ihnen bis zu den Knien reichten“, erinnert sich die 50-Jährige. Dieser Anblick habe ihr einen Stich ins Herz versetzt. „Ich lief sofort zu den Pflegekräften und fragte nach, was das soll, doch meine Oma winkte ab.“ Die 95-Jährige beruhigte ihre Enkelin und warb um Verständnis: „Sonst haben die hier mit der Wäsche doch so viel Arbeit.“

Auch interessant

Für die Enkelin aber war das keineswegs in Ordnung. „Es war demütigend.“ Genauso wie die Art und Weise, wie einige Pflegekräfte mit ihrer Großmutter redeten. „Wie mit einem Kind oder als wäre sie gaga im Kopf, nur weil sie alt ist.“ Dennoch fühlte sich die Seniorin in dem Altenheim zunächst recht wohl. Hellhörig wurde Susan aber, als ihre Oma eines Tages eher beiläufig erwähnte: „Solange man gut zurecht ist und alles alleine machen kann, lässt es sich hier leben. Aber wehe, du bist auf Hilfe angewiesen.“ Weiter erläutert habe sie das damals aber nicht.

Dann kam dieser Anruf auf dem Krankenhaus. „Meine Oma hatte zu wenig getrunken und war dehydriert zusammengebrochen.“ Sie habe die ganze Nacht vor der Toilette in ihrem Badezimmer gelegen. „Die diensthabende Pflegerin behauptete, sie hätte mehrfach nachts nach allen Bewohnerinnen und Bewohnern gesehen – wieso hat sie meine Oma dann nicht eher gefunden?“ Erst die Frühschicht hatte den Krankenwagen gerufen. „Später entschuldigte sich die Pflegerin bei uns, sie sei nachts alleine für drei Stationen zuständig gewesen, habe sich um zwei Notfälle kümmern müssen und habe zwischendurch auch noch die Pforte bedienen müssen.“

Der Hausarzt drohte mit einer Anzeige

Der Hausarzt der Großmutter schaltete dennoch die Heimaufsicht ein. Es musste ein Trinkprotokoll erstellt werden. „Als ich zu Besuch kam, lag dieses Protokoll auf dem Tisch und es waren schon die Mengen eingetragen, die meine Oma angeblich bis 14 Uhr getrunken hat“, erinnert sich Susan. „Es war aber erst 10.30 Uhr.“ Sie fotografierte das Protokoll und die Uhrzeit, wandte sich an die Heimaufsicht und schaltete auch den Hausarzt noch einmal ein. „Er drohte der Einrichtung mit einer Anzeige, falls sich solche Vorfälle noch einmal wiederholen sollten.“

Auch interessant

Die Familie vereinbarte noch engmaschigere Besuche, kontrollierte das Protokoll, malte Striche an die Trinkflasche – und konnte doch nicht verhindern, dass die Großmutter erneut zusammenbrach. Die letzten Monate verbrachte die inzwischen 98-Jährige bettlägerig. „Sie hatte von dem letzten Sturz eine Hirnblutung davon getragen.“ Ihr Heimplatz kostete zuletzt 4500 Euro monatlich (inklusive Pflegegeld). Dennoch übernahm die Familie wie selbstverständlich das Füttern ihrer Angehörigen. „Die Pflegekräfte sagten einfach, dafür hätten sie keine Zeit – wir konnten Oma doch nicht verhungern und verdursten lassen!“ Drei Monate später starb die 98-Jährige. „Letztlich war es eine Erlösung, aber diese Zeit verfolgt mich bis heute, ich hätte dieser wunderbaren Frau einen würdevolleren Tod gewünscht.“

Doch Susan mag die Pflegekräfte der Einrichtung trotzdem nicht pauschal verurteilen. „Dort gab es eben auch viele, die sich wirklich Arme und Beine ausgerissen haben, die toll mit den alten Menschen umgegangen sind und etliche unbezahlte Überstunden gemacht haben, um diesem System ein menschlicheres Gesicht zu geben.“ Fest steht für die 50-Jährige aber ebenfalls: „Selbst wenn alle Stellen besetzt gewesen wären, der gesetzlich festgelegte Personalschlüssel reicht nicht aus, um eine würdevolle Pflege zu gewährleisten.“ Diese sei noch immer nur mit Hilfe der Angehörigen halbwegs erträglich umzusetzen. „Und geht damit wieder einmal hauptsächlich zulasten der Frauen, die sich neben Kindererziehung und Berufstätigkeit um ihre alten Angehörigen kümmern.“

Der Verlust der Menschenwürde

Den Verlust der Würde hat auch Brigitte (73, Name geändert) erleben müssen. Ihr Mann war an Alzheimer erkrankt und verbrachte die letzten Jahre in einer Senioreneinrichtung. Auch Brigitte hatte stets einen Putzlappen dabei, wenn sie ihren Mann besuchte. „Das ganze Zimmer klebte vor Dreck.“ Nur ihren engmaschigen Kontrollen sei es zu verdanken gewesen, dass der schwerkranke Partner sich nicht auch noch wund gelegen habe. „Er war inkontinent geworden. Hätte ich nicht aufgepasst, wäre er stundenlang in den vollen Windeln liegengelassen worden.“

Auch interessant

Brigitte gönnte sich kaum noch einen freien Tag, keinen Kurztrip, keinen Urlaub. „Das ging nicht.“ Sie wusste: „Es würde sich niemand wirklich um ihn kümmern, es ist viel zu wenig Personal da.“ Welche Folgen das haben kann, bekam Brigitte bei den Bewohnerinnen und Bewohnern mit, die keine Angehörigen mehr hatten. „Sie saßen vor ihrem Mittagessen und wussten offensichtlich nicht mehr, wie sie die Gabel zum Mund führen sollten, doch gefüttert hat sie niemand.“ Die vollen Teller seien dann nach einer halben Stunde einfach wieder abgeräumt worden. „Ich konnte das nicht mitansehen“, erzählt die 73-Jährige. Also fütterte sie erst ihren Mann und dann alle anderen am Tisch, die Hilfe benötigten. Jahrelang machte sie das so.

Bis ihr Mann starb und sie mit einem Burnout in der Klinik landete. Als sie nach ihrer Reha wieder nach Hause kam, hatte sie fünf Anrufe des Seniorenheims auf ihrem Anrufbeantworter. „Sie fragten, wann ich wieder kommen kann, um beim Mittagessen zu helfen.“ Aber Brigitte kommt nicht mehr. Sie hat keine Kraft mehr dafür. Alpträume plagen sie noch immer.

Susan und Brigitte fordern endlich einen grundlegenden Systemwechsel in der Pflege. „In Ländern wie Norwegen, Schweden und Dänemark ist die Pflege steuerfinanziert, die Personalschlüssel sind viel besser, wieso geht das bei uns nicht?“

----------------------------------------------

Welche Erfahrungen haben Sie mit der Pflege in Alten- und Seniorenheimen gemacht? Wenn Sie möchten, schildern Sie uns ruhig Ihre Erlebnisse und schreiben Sie eine Mail an: redaktion.oberhausen@waz.de. Auch die Sichtweise von Pflegekräften und Ihre Erlebnisse mit Angehörigen und Pflegebedürftigen interessiert uns für weitere Berichte.