Oberhausen. Der Oberhausen-Roman „Die fünfte Nacht“ porträtiert liebevoll Helden des Alltags. Das utopische Finale will alle unterhaken – auch die Rechten.
Oberhausen-Romane – gibt’s die nicht schon in Serie? Schließlich hat Ralf Rothmann mit seinen Erzählungen vom Tackenberg, allesamt entstanden in Berlin, kräftig vorgelegt. Und nun kommt ein anderer Wahlberliner mit den 300 Seiten von „Die fünfte Nacht“ und hebt katastrophisch gestimmt an: „Die vierte Nacht hatte Oberhausen so übel mitgespielt, dass sich die Stadt danach nicht wiedererkannte.“
Bei Rothmann ist’s halt der Blick von innen und aus der Erinnerung an die 1960er Jahre, von dem dieser Feuilleton-Liebling auch nach Jahrzehnten nicht lassen kann. Oberhausen ist inzwischen eine andere Stadt – eine Stadt, der ein Blick von außen mal guttut. Ralph Hammerthaler ist halt unüberhörbar im oberbayrischen Wasserburg am Inn aufgewachsen, war gerne und ausgiebig – nach einer ganzen Serie von Stadtschreiber-Stipendien – auch in Oberhausen zu Gast. Er hat den ganz anderen Blick auf’s Revier: ohne Rost-Nostalgie, ohne die Verklärung des Arbeiteradels an Hochöfen und in Stollen.
Und doch prägt dieser Blick in die Tiefe „Die fünfte Nacht“, deren Umschlag ausgerechnet das neue Duisburger (!) Wahrzeichen zitiert: die Fußgängerachterbahn „Tiger and Turtle“. Doch das ist kein Design-Fehlgriff – ganz im Gegenteil: Die wie verschlungene Schienen wirkende Silhouette gleicht dem Denkmal gewordenen Gefühlsleben des Romanhelden, Ich-Erzählers und Straßenbahnfahrers Paul, der zum Beginn der Erzählung gerade zuhause ausziehen musste, weil er sich mit Séverine eine viel zu junge Freundin angelacht hat.
Tonnenschwere Symbolik des Tagesbruchs
Paul wohnt nun am Altmarkt in Oberhausen über der hier „Solidarność“ genannten Kultkneipe Gdanska. Und er fürchtet während seiner Straßenbahnfahrt nicht, dass der Himmel über ihm einstürzt, sondern, dass sich die Erde vor ihm auftut. Hier hat der bayrische Romancier nonchalant die im mittleren Ruhrtal stets begründete Furcht vor Tagesbrüchen mal in den tiefen Westen des Reviers verlegt. In einem so lakonisch wie surreal erzählten Tagtraum sieht sich Paul sogar mitsamt Bahn und Passagieren in den Untergrund rauschen – und auf den Gleisen der alten Loren im tiefen Stollen weiterfahren.
Komme jetzt niemand mit womöglich unpassenden Spurweiten oder – vom anderen Ende des kritischen Spektrums – mit der tonnenschweren Symbolik solcher Szenen. Denn Hammerthaler gräbt sich zwar vor zu den großen Themen einer nachindustriellen Stadtgesellschaft, doch er liebt mit feinem Ohr auch das Alltägliche, den so schnoddrigen wie pointierten Tonfall des Reviers, den er mit Gusto nachzeichnet.
Daraus macht dieser Erzähler voller Sympathie allerdings kein Oberseminar in Pott-Platt, denn in seinem Oberhausen der 2010er Jahre zählen alle mit: Die Schönheit aus dem Afro-Shop, die im prächtigsten Kleid sonntags den Gottesdienst ihrer ghanaischen Gemeinde feiert. Natürlich auch die Inhaberin des stadtbekannten Dessous-Geschäftes, die schon dem „Marktstraßenschreiber“ Ralph Hammerthaler jene Lebensweisheiten ausgebreitet hatte, aus denen mal ein hübscher kleiner Autorenfilm werden müsste. Dazu zählt auch der Hooligan, der montags als vorbildlicher Vorgesetzter seine Blutergüsse aus der Wochenend-Schlägerei herzeigt.
Utopische große Linie des Romans
Die Figuren-Konstellation, mit dem herzenswarmen Mittelpunkt des Tresens von Mirek und Zuzanna, macht die unbefangene Lektüre für Oberhausener womöglich zum Problem: Schließlich erkennt hier jeder Czeslaw und Maria, das Wirtspaar im Gdanska, es gibt über 200.000 Kenner dieser Stadt. Aber ihnen sollten erzählerische Freiheiten nicht den Blick verstellen auf die geradezu utopische große Linie des Romans.
Denn dessen aufrechter, aber nicht besonders heldenhafter Held Paul ist, mal abgesehen von seinen erotischen Abenteuern, vor allem ein Beobachter, dessen grummelndes unterirdisches Bauchgefühl von der Sorge genährt wird: Die Stadt könnte zerbrechen.
Romancier liest im Theater an der Ruhr
Ralph Hammerthalers Roman „Die fünfte Nacht“, erschienen im Berliner Quintus-Verlag, hat 304 Seiten und kostet 24 Euro. Wer die Lesung des Romanciers im Gdanska-Theater verpasst hat, dem bietet das nahe Theater an der Ruhr in Mülheim, Akazienallee 61, am Mittwoch, 10. November, um 19.30 Uhr eine zweite Chance. Karten gibt’s ab 5 Euro.
Wer lesend zurückblicken will auf das Oberhausen der 1960er, dem bietet Ralf Rothmanns aktueller Band „Hotel der Schlaflosen“, unter elf Erzählungen auch wieder eine Geschichte vom Tackenberg: erschienen bei Suhrkamp, 204 Seiten, Broschur, für 12 Euro.
Hammerthaler spiegelt diese Gefahr in der klassischen Gegenüberstellung zweier verfeindeter Brüder: des linken Bloggers Yann und des rechten Türstehers Wolle, der sich selbst „unpolitisch“ nennt. Der Romancier lässt jedem seine Sprache und jedem seine Sicht der Dinge. Für oberflächliche Leser macht er sich damit angreifbar – aber dieses Missverständnis hat ja feuilletonistische Tradition: Man erinnere sich nur an die Novelle „Fräulein Stark“ des vielfach hochgeehrten Schweizers Thomas Hürlimann, einst übel zerfetzt vom Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki, dem Autor und Romanfigur durcheinander geraten waren.
Hammerthalers Haltung ist klar: Man sollte auch die nach rechts Abgedrifteten zurückholen in die solidarische Stadtgesellschaft. Die schreckliche „vierte Nacht“ erzählt er als von Paul beobachtete Amokfahrt, ähnlich jener der Silvesternacht 2018 in Bottrop und Essen. Die Oberhausener dieses Romans antworten mit einem Gang über die Marktstraße, die Arme untergehakt. Auch ein Rechter ist dabei.
Ein herausfordernder Roman
Es ist eine Utopie in einer Stadt, die ihre linke Tradition so hoch hält, dass der gewollte Abstand einem Kontaktverbot gleichkommt. Für Oberhausener ist „Die fünfte Nacht“ ein herausfordernder Roman. Ein wichtiger Roman.