Bottrop/Essen. Acht Menschen hat Andreas N. auf seiner Amokfahrt in Bottrop und Essen verletzt. Viele Augenzeugen haben die Gefahr zunächst nicht erkannt.
Britta Kölker weiß nicht, dass gerade der Tod an ihr vorbeirast, sie denkt nur: „Was für ein Bekloppter!“ Mit Freunden ist sie kurz vor Mitternacht aus dem Lokal in der Bottroper Innenstadt getreten, in dem sie zusammen feiern, und raucht nun. Und dann: ein Auto in rasender Fahrt! „Der fuhr mit Affenzahn in Richtung Berliner Platz, echt Tempo Notarztwagen“, erinnert sich die 43-Jährige: „Wenn die Fußgängerzone voller gewesen wäre oder wir weiter draußen gestanden hätten, wäre schlimmstenfalls jemand tot.“
Handyvideos dokumentieren die Raserei
Fünf Menschen wird Andreas N., ein Gebäudereiniger mit psychischen Problemen, gleich verletzen, einige schwer; acht werden es in einer halben Stunde sein, bis die Polizei ihn fasst. Sechs Tatorte hinterlässt der 50-jährige Essener, den schlimmsten in Bottrop. Was hier auf dem Berliner Platz geschieht, wenige Sekunden, nachdem der Fahrer an Britta Kölker vorbei ist, das dokumentieren Videos im Netz, aufgenommen von Menschen, die eigentlich nur das Feuerwerk zum Jahreswechsel filmen wollten.
Sie zeigen, wie der Amokfahrer in Richtung Berliner Platz abbiegt. Er fährt nicht mehr schnell, aber er bremst auch nicht, als Menschen im Weg stehen. Dann beschleunigt er. Kurz, aber stark. Eine junge Frau ist zu sehen, die auf dem Platz einen Feuerwerkskörper ansteckt und sich freut, als Funken sprühen. Eine Freude, die binnen einer Sekunde in Angst umschlägt, als der silberfarbene Mercedes-Kombi mit eingeschalteter Warnblinkanlage auf sie zu fährt. Ein Mann liegt schon auf der Motorhaube, rutscht wieder herunter, andere Passanten springen in letzter Sekunde zur Seite. Der Wagen bremst, setzt rücksichtslos zurück und fährt vom Platz.
Ein anderes Handyvideo zeigt, wie der Täter seinen Mercedes durch die Fußgängerzone an der Hansastraße steuert, die in diesem Augenblick menschenleer ist.
Ein sechster Tatort
Neben den bis Dienstag bekannten fünf Angriffen, soll Andreas N. noch ein weiteres mal zugeschlagen haben: Die Polizei in Münster bestätigte am Mittwochnachmittag Zeugenhinweise in sozialen Medien, die den silberfarbenen Mercedes mit „auffälliger Fahrweise“ auch an der Kreuzung Essener und Zeppelinstraße in der Bottroper Innenstadt beobachtet hatten. Der Fahrer soll auf eine Menschengruppe zugesteuert, aber dann wieder abgedreht haben. An der Kreuzung ist ebenso eine Haltestelle der Buslinie 186 wie am Rabenhorst in Borbeck, wo der Fahrer wartende Menschen anzufahren versucht hat, und am Berliner Platz in Bottrop, wo die Polizei die Zahl der verletzten Männer, Frauen und Kinder auf sieben nach oben korrigiert hat.
Diese Menschen müssen jetzt im Mittelpunkt stehen, sagt Oberbürgermeister Bernd Tischler – und erntet für diese Einstellung Zustimmung über die Parteigrenzen hinweg. Sozialdezernent Willi Loeven hat bereits damit begonnen, die Unterstützung der beiden Bottroper Familien zu organisieren. Sie stammen aus Syrien und Afghanistan.
Welche Konsequenzen die Stadt Bottrop aus der Amokfahrt ziehen wird, ist Tagesordnungspunkt Nummer eins auf der ersten Sitzung des Verwaltungsrates im Jubiläumsjahr: 1919 ist Bottrop Stadt geworden. Natürlich wird die Sicherheitsfrage eine Rolle spielen. Obwohl gerade der Berliner Platz eigentlich durch Poller geschützt ist. Doch die waren nicht alle aufgerichtet in der Silvesternacht: Eine Schneise war freigelassen worden für die Firmen, die auf dem Berliner Platz die große Bühne und die Pagodenzelte aufbauten für das festliche „Neujährchen“, mit dem die Stadt ins Geburtstagsjahr starten wollte. Durch eben diese Schneise fuhr der 50-jährige Angreifer.
Die Gesellschaft demonstriert
Wie soll sich die Bottroper Stadtgesellschaft verhalten zu diesem Anschlag? In Essen hat das Bündnis „Essen stellt sich quer“ am Abend zu einer Kundgebung gegen Fremdenfeindlichkeit aufgerufen. Auch das „Bündnis buntes Bottrop“ hat sich gegen Fremdenhass aufgestellt, zu der Amokfahrt aber noch nicht positioniert. Vielleicht ist das ganz gut so, sagt die evangelische Pfarrerin Anne Hanhörster. „Vielleicht sollten wir uns alle etwas Zeit zum Nachdenken nehmen.“ Ihre persönliche Linie hat sie schon gefunden: „Ärmel aufkrempeln und weiter Menschlichkeit predigen.“
Auch auf Facebook kommentieren sehr viele Menschen die Tat, darunter wohl auch solche, an denen der Täter vorbei gefahren ist auf seiner sieben Kilometer langen Strecke vom Tatort Berliner Platz heim nach Essen-Borbeck. „Der ist gestern auch bei uns durchgerauscht, und in der Höhe vom China-Imbiss/Bushaltestelle wollte er auch in die Leute rasen. Wir dachten, er sei betrunken“, heißt es an einer Stelle, und an anderer: „Der hupte wie verrückt und bog links ab . . . Haben uns nur gedacht, was für ein Idiot . . . Kurze Zeit später fuhr die Polizei da auch mit Blaulicht links um die Ecke . . . Bei uns war das, wo er dann gefasst wurde.“
Mitten in Borbeck, recht nah jetzt schon dem Mehrparteienhaus, in dem er wohnt, ist er auf eine letzte Haltestelle zugefahren. Am Montag weht in ihrem Wartehäuschen rot-weißes Flatterband, wo einmal eine Glasscheibe war. Dann kommt der Bus. Linie 186. Im Fenster vorne wird ihr Fahrziel angezeigt: „Bottrop ZOB Berliner Platz.“