Essen. Ralf Rothmanns neuer Erzählband „Hotel der Schlaflosen“ verstört doppelt und dreifach, auch mit weißem Schnee und schwarzer Kohle.
Weißer Schnee oder schwarze Kohle, das sind Spezialformen der Tautologie – so doppelt wie überflüssig. Nur nicht im Ruhrgebiet: „Aber hallo! Wenn ich aus dem Ruhrpott komme, sage ich selbstverständlich weißer Schnee. Wer hinter der Kokerei Jacobi wohnt, hat nämlich keine Ahnung davon, wie Schnee wirklich aussieht! Und ich sage auch schwarze Kohle – oder gibt’s etwa keine braune oder anthrazitfarbene? Keinen Koks?“ So erklärt es Egon, der mit seinem Leichenwagen im Stau auf der A40 steht, seinem Beifahrer: Sie sind unterwegs zur Zeche Haniel, „irgendein Einsturz mit ein paar Zerquetschten.“
Egon ist 70 und der Stiefvater des Ich-Erzählers, ein notorischer Trinker, weil – so sagen die Ärzte – sein Vater starb, als Egon „noch im Fruchtwasser schwamm“. Der Erzähler wiederum wird bald Onkel, seine eigene Ehefrau ist mit seinem eigenem Bruder durchgebrannt und nun schwanger; die beiden haben eine Postkarte mit Mumien geschickt: aus der Kapuzinergruft in Palermo (die Ex ist Italienerin). Dann stehen die Bestatter in der Bottroper Kaue stehen zwischen mumifizierten Leichen, es handelt sich um vor Jahrzehnten Verschüttete. Einer der Toten ist Egons Vater. Verrückt, das Leben.
Die Hinrichtung von Isaak Babel
Das Motiv der Doppelung durchzieht viele der Geschichten in Ralf Rothmanns neuem Erzählband, weißer Schnee rieselt zwischen den druckerschwarzen Zeilen, auch dann, wenn sie gar nicht im Ruhrgebiet spielen, sondern in Rothmanns langjähriger Heimat Berlin oder damals in Moskau. Wie derb aber das Leben sein kann, wie nah am Tod, und wie immer wieder Verschüttetes plötzlich auftauchen kann: Diese Erkenntnis wurde womöglich in Rothmanns Revierkindheit geboren.
„Geronimo“, so heißt ein berühmter Apachenhäuptling, den der Erzähler in gleichnamiger Geschichte – diesmal womöglich nah dran am Autoren-Ich – verehrt. Der Vater aber liest Cowboyheftchen, was doch gut ist, denn eines Morgens in Oberhausen-Tackenberg werden sie von einem betrunkenen Mann im übergroßen Bademantel überfallen. Der Vater aber, Pistole auf der Brust – lächelt: „Es war dieses überraschende, in meiner Kindheit kein dutzend Mal erlebte, aus der grauen Aura seiner Melancholie hervorstrahlende Lächeln, in dem ich zu lesen meinte, dass es nicht nur Arbeit und Enge in unserem Leben gab, die sorgenvolle Alltäglichkeit, sondern auch ein tief verschüttetes Glücksvorkommen.“ Lächelt die Bedrohung weg, der Vater, und wird dem Sohn später erzählen, dies sei nur ein Apache gewesen, der kein Feuerwasser verträgt.
„Literatur hat eine Verantwortung vor dem Leben“
Im „Hotel der Schlaflosen“ wird die Pistole durchaus losgehen. Schriftsteller Isaak Babel ist nur eines von hunderten Opfern, die als Staatsfeinde des Stalinismus hinrichtet werden. Sein Henker ist Wassili Blochim, den Rothmann als selbstgerechten Literaturliebhaber porträtiert. Doch wenn Babel sich auf die Freiheit der Kunst beruft („Literatur hat eine Verantwortung vor dem Leben, vor der Wahrheit.“) lacht Blochim nur – und drückt ab. Wahrheit ist immer nur das, was wir selbst uns erzählen, ob es um Apachen geht oder den Stalinismus.
Rothmann gelingen Spiegelungen, die das Wesen des Menschen einfangen – doppelt und dreifach: so verstörend wie tröstlich.
Ralf Rothmann: Hotel der Schlaflosen. Suhrkamp, 200 S., 22 €