Oberhausen. Auf zwölf Seiten erinnert das Heft der Geschichtswerkstatt an Clärenore Stinnes’ Weltumrundung. Und ein Nobelpreisträger entdeckt Alstaden.

Der Blick über den sprichwörtlichen Gartenzaun verführte die „Schichtwechsel“-Redaktion zu einer veritablen Abenteuerin-Geschichte, die in der neuen Ausgabe des „Journals für die Geschichte Oberhausens“ fast zwölf Seiten einnehmen darf. Unter der martialischen Schlagzeile „Die Frau aus Stahl“ erzählt Christoph Strahl von Clärenore Stinnes’ mehr als zweijähriger Weltreise: Die weltweit erste Automobilistin, der dieser Coup 1927 bis 1929 gelang, war die Tochter des Stahlhandel-Magnaten Hugo Stinnes.

Der Firmenname hat auch heute noch genug Klang, dass die meisten wissen dürften: Diese Geschichte beginnt in Mülheim, dem Geburtsort Stinnes’. Und Christoph Strahl rekapituliert in seinem süffig zu lesenden Text – fast ein Sittenbild der vermeintlich „Goldenen Zwanziger“ – auch die Unternehmer-Karriere des „Assyrerkönigs“ Stinnes, dessen gewaltiges Konzern-Konglomerat nach seinem plötzlichen Tod 1924 prompt zerbröselte.

Bildung bedeutet Ankunft nach der Migration: Mit dieser Aufnahme wirbt das Stadtarchiv um Zeitzeugen für sein gemeinsames Projekt mit dem Theater Oberhausen.
Bildung bedeutet Ankunft nach der Migration: Mit dieser Aufnahme wirbt das Stadtarchiv um Zeitzeugen für sein gemeinsames Projekt mit dem Theater Oberhausen. © Stadtarchiv Oberhausen

Hätte die eigene Mutter sie nicht aus der Stinnes-Firmenleitung gedrängt, wäre Clärenore Stinnes (1901 bis 1990) – die von ihrem Vater nach Kräften geförderte Tochter – wohl nie der Idee verfallen, sich als Autorennfahrerin zu versuchen. Gleich mit ihren ersten Rallyes distanzierte sie das Gros der männlichen Konkurrenz. Und nachdem sie selbst die Strapazen der „allrussischen Prüfungsfahrt“ von Leningrad über Moskau bis Tiflis in Georgien überstanden hatte, war die Idee einer Weltumrundung geboren – und zwar, wie die 26-Jährige damals schrieb, „mit einem ganz gewöhnlichen Kasten mit vier Rädern, wie ihn jedermann im Geschäft auch kaufen konnte“.

Gekonntes Spiel auf der Medienklaviatur

Der „Kasten“ war ein „Adler Standard 6“ plus einem kleinen Adler-Lieferwagen für die beiden Mechaniker und den schwedischen Kameramann Carl-Axel Söderström – den späteren Ehemann der Motorsport-Pionierin. Es wäre ein böser Spoiler, nun alle Abenteuer inklusive der Erstbefahrung des gefrorenen Baikalsees in Sibirien nachzuerzählen. Christoph Strahl macht aber auch deutlich, wie gekonnt Clärenore Stinnes auf der Medienklaviatur zu spielen wusste – und dem Autor so reiches Quellenmaterial verschaffte. Die weiteren 60 Jahre ihres Lebens verbrachte die Mülheimerin dann als Gutsherrin in Schweden.

Hugo Baum, Sohn eines jüdischen Vaters, fand über die katholische Zentrumspartei zur Sozialdemokratie.   
Hugo Baum, Sohn eines jüdischen Vaters, fand über die katholische Zentrumspartei zur Sozialdemokratie.    © Schichtwechsel | Archiv Familie Baum

Aus Schwedens hohem Norden stammte der spätere LIteratur-Nobelpreisträger Eyvind Johnson (1900 bis 1976), im Zweiten Weltkrieg ein Weggefährte Willy Brandts. Für den „Schichtwechsel“-Beitrag von Manfred Dammeyer allerdings ist Johnson der Zeuge für eine Bewegung der Arbeiterschaft, die Jahrzehnte sozialdemokratischer Dominanz nahezu aus der Geschichte getilgt haben: Der junge Schwede erlebte die Zeche und Siedlung Alstaden 1922 dagegen noch als Hochburg der Anarchosyndikalisten. Deren „Freie Arbeiterunion“ erhielt bei Betriebsratswahlen in Alstaden über 90 Prozent der Stimmen.

Der junge Literat war entsetzt von Oberhausen

Eyvind Johnson war beeindruckt von seinen Gastgebern aus den Reihen der anarchistischen Gewerkschafter. Von Oberhausen war der junge Arbeiter-Literat eher entsetzt: „Ich habe nirgends, selbst nicht in Berlins Apachenquartieren, so viele betrunkene, torkelnde und kotzende Menschen auf einmal gesehen wie in Oberhausen.“ Für einen Sozialisten sei dies „niederschmetternd“.

Einen so kritischen wie loyalen Sozialdemokraten der zweiten Nach-Weltkriegszeit porträtiert André Wilger: Seine Würdigung für Hugo Baum (1925 bis 2013), den langjährigen Ratsherrn und später Sozialdezernenten, hat allerdings ein Manko: Wilger vertraut ganz auf das Charisma des lebensnahen Erzählers – das sich allerdings in längeren Typoskripten nach Tonband- oder Filmaufzeichnungen nicht annähernd so gut vermittelt wie etwa in Volker Kösters Film „Verkauft, verjagt, vergessen“ über die „Arisierung“ der Marktstraße.

Das Buchgestöber gibt’s 2021 am 3. Oktober

Das neue „Schichtwechsel“-Heft, 44 Seiten stark, gibt’s für 3,50 Euro im Buchhandel und vielen Verkaufsstellen, ältere Ausgaben zum gleichen Preis auf der Internetseite geschichtswerkstatt-oberhausen.de oder unter 0208-30 78 350.

Übrigens lohnt auch ein Blick auf die Heft-Rückseite. Denn dort erfährt man vom neuen Termin des beliebten „Buchgestöbers“: Statt im Mai präsentiert sich der größte Büchermarkt des Ruhrgebiets nun am Tag der deutschen Einheit, 3. Oktober, dann wieder rund ums Domizil der Geschichtswerkstatt im Zentrum Altenberg.

Weitere Themen des neuen „Schichtwechsel“-Heftes sind die Ausstellung zur NS-„Euthanasie“ in der Gedenkhalle, der Streit um die atomare Bewaffnung zur Adenauerzeit, das gemeinsame Projekt von Stadtarchiv und Theater Oberhausen zu 150 Jahren Migrationsgeschichte – und last, not least, ein weiterer Blick über den Gartenzaun: Den Essay über die junge Geschichts- und Medienwerkstatt in Duisburg eröffnet schließlich ein ganzseitiges Foto des Oberhauseners Michael Kerstgens: Es zeigt tausende Besucher beim „Auf Ruhr“-Solidaritätskonzert 1988 für die Rheinhausener Stahlwerker.