Oberhausen. Die Wanderausstellung „Vergessene Opfer“ stammt aus der Gedenkstätte im sächsischen Pirna. Das Thema wirkt nach bis in aktuelle Debatten.
Unter den mehr als 200 Stolpersteinen in Oberhausen, erinnert seit dem 26. Februar mit dem Stein für die in Wien gestorbene Alstadenerin Ingeborg Tritt erstmals eines der kleinen „Denkmale von unten“ an ein Opfer der NS-Euthanasie. Wie sich die zynische Mordpolitik des „schönen Todes“ (so die ursprüngliche Bedeutung von Euthanasie) während des Zweiten Weltkriegs entwickelte, zeigt so knapp und informativ wie bewegend die aktuelle Ausstellung in der Gedenkhalle.
Die zweisprachig in deutscher und polnischer Sprache gestalteten Text- und Bild-Banner von „Vergessene Opfer der NS-Euthanasie“ stammen aus der sächsischen Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein und beleuchten beispielhaft die Mordkampagne in den schlesischen „Heil- und Pflegeanstalten“. Claudia Stein vom Team der Gedenkhalle entdeckte die Wanderausstellung im Oberschlesischen Landesmuseum im nahen Ratingen. Doch die didaktische Aufbereitung des bis in tagesaktuelle Debatten nachwirkenden Themas ist für die westlichste Provinz des einstigen Preußen so schlüssig wie für das heute polnische Schlesien.
Während im hessischen Hadamar, der Mordstätte vieler Euthanasie-Opfer aus dem Rheinland, bereits 1964 der Anstaltsfriedhof des Psychiatrischen Krankenhauses in eine Gedenklandschaft umgewandelt wurde, erforschte eine Initiative im sächsischen Pirna-Sonnenstein erst nach der Wende die verdrängten Verbrechen – und zeigt seit 2000 die im Keller des schmucken Krankenhauses verborgene Gaskammer und das Krematorium.
Erst 2007 als Unrechtsgesetz erkannt
Das bereits 1933 vom NS-Regime verabschiedete Reichsgesetzblatt zu acht Erbkrankheiten, betont Claudia Stein, „ist nach 1945 nicht verschwunden“. Erst 2007 hatte es der Bundestag als Unrechtsgesetz erkannt. Doch während mehr als eines halben Jahrhunderts bis dahin, so die Historikerin, „hatten 400.000 Menschen keinen Anspruch auf Entschädigung“. Den Schritt von der sogenannten „Rassenhygiene“ zum Krankenmord regelte allerdings kein Gesetzblatt, sondern ein wenige Textzeilen dürrer Erlass, den Hitler auf den 1. September 1939, den ersten Kriegstag, zurückdatieren ließ. Wie im NS-Staat üblich, verschleierte ein Gestrüpp von Instanzen und neuer Organisationen die Verantwortung.
Auch 5000 Kinder sind „vergessene Opfer“
In Deutschland wurden mindestens 600.000 Menschen von 1933 bis 1945 zu Opfern der NS-Euthanasie. 400.000 Männer und Frauen wurden zwangssterilisiert, viele starben an den Folgen des Eingriffs. Auch dem Oberhausener Wilhelm Mettbach wurde als Sinto so „das Recht auf Familie verwehrt“, wie Claudia Stein sagt. Unter den Opfern befanden sich mindestens 5000 Kinder. Auch über die sogenannte „Kinder-Euthanasie“ informiert die Ausstellung „Vergessene Opfer“.
Zu sehen sind die 20 Banner in der Gedenkhalle Schloss Oberhausen bis zum 30. Juni – allerdings nur nach Anmeldung und mit einem negativen Corona-Schnelltest, 0208 - 6070 5310,per E-Mail an info-gedenkhalle@oberhausen.de
Angehörige, die ihre Verwandten in die vermeintliche „Obhut“ der Heilanstalten gegeben hatten, erhielten Totenscheine mit der Diagnose „Lungenentzündung“. Tatsächlich waren die „Erbkranken“ in als Duschräumen eingerichteten Gaskammern mit Kohlenmonoxid erstickt worden. Oder sie erhielten eine Überdosis des Beruhigungsmittels Luminal. Oder sie starben – wie die 16-jährige Ingeborg Tritt aus Alstaden – noch in den ersten Wochen nach Kriegsende an den Folgen der Unterernährung.
Das als „Aktion T 4“ von der NS-Bürokratie organisierte Morden endete im August 1941, nachdem der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen den deutschen Staat wegen Mordes angezeigt hatte. „Dennoch ging es mit dem Töten weiter“, sagt Claudia Stein. Die in immer weniger Anstalten zusammengedrängten Patienten starben an Vernachlässigung, mangelnder Ernährung und Hygiene. In der Wechselausstellung beschließt jedes Kapitel ein Banner „Opfer und Täter“ mit knappen Biografien: Selten mussten sich die Verantwortlichen einem Gericht stellen. Mörderische Mediziner konnten nach 1945 fast ungebremst ihrer Karrieren fortsetzen.
Folgen bis in Debatten der Gegenwart
Als Lehrerin sieht Claudia Stein etliche aktuelle Bezüge dieser nachdenklich stimmenden Ausstellung zu aktuellen Debatten – von der Novellierung des Sterbehilfegesetzes bis zur Frage: „Was ist mit unseren alten Menschen?“ Bei der kleinen Stolperstein-Zeremonie für die mit 16 Jahren verhungerte Ingeborg Tritt hatte ihre heute 90-jährige Schwester Edith Dorsch gesagt: „Manchmal habe ich den Eindruck, dass unsere heutige Gesellschaft das alles nicht mehr wahrnimmt.“