Oberhausen. Das neue “Schichtwechsel“-Heft der Geschichtswerkstatt erzählt von Pandemien des 20. Jahrhunderts - und bietet “Oberhausen komprimiert“
Im dritten Monat des zweiten Lockdowns möchte man eigentlich nichts mehr zum Thema Pandemie lesen – und ist dann doch fasziniert von Christoph Strahls Fleißarbeit. Denn auch die Geschichtswerkstatt zeigt sich mit ihrer jüngsten Ausgabe des „Schichtwechsel“-Journals infiziert vom viralen Thema.
Zehn der 44 Heftseiten widmen sich unter der Schlagzeile „So eine Seuche!“ den drei großen Grippe-Epidemien des 20. Jahrhunderts: sowohl mit ihren weltweiten Symptomen und Folgen als auch mit dem, was sich aus Oberhausen über die Spanische Grippe, die Asiatische und die Hongkong-Grippe in den Archiven recherchieren ließ. Und das ist – viele mag’s überraschen – keineswegs die Fülle an Material, wie sie spätere Historiker über die aktuelle Corona-Pandemie finden dürften. Selbst die Millionen-Zahl der Todesopfer in Folge der Spanischen Grippe, die von 1918 bis 1920 in drei Wellen die Welt am Ende des Ersten Weltkriegs erfasst hatte, variiert in der enormen Breite von 20 bis 100 Millionen Grippe-Toten. Eine Welt im Umbruch, mit stürzenden Kaiserreichen von Deutschland bis Russland, widmete der verheerenden Seuche nach den Verheerungen des Weltkriegs (aus heutiger Sicht) verblüffend wenig Aufmerksamkeit.
Keine Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie
So erzählt denn auch „Schichtwechsel“-Autor Christoph Strahl anhand einer Fülle von Quellen sowohl vom globalen Angriff des A/H1N1 genannten Influenza-Virus als auch von den wenigen Zeugnissen aus der noch jungen Stadt Oberhausen. Und kommt zu dem herben Fazit: „Drastische Maßnahmen der Behörden zur Bekämpfung der Pandemie gab es nicht.“ Im zusammenbrechenden Kaiserreich galt die ganze Aufmerksamkeit der Stadtoberen der Versorgungslage – trotz 30 Bestattungen von Grippetoten an einem einzigen Wochenende.
Der Kleinanzeigenmarkt war sogar eine ergiebigere Quelle in den Wintern 1918/19 als die Lokalnachrichten: Der „Seuchen“-Rechercheur fand Inserate für Medikamente und für den Telefon-Desinfektor „Grippsano“. Mit 29.100 und 46.900 Toten deutschlandweit reichten auch die Grippe-Epidemien der Jahre 1957/58 und 1968/69 nahe heran an das aktuelle Level der Corona-Todesopfer. Und während dieser Friedens-Nachkriegsjahre war die mediale Aufmerksamkeit nun auch größer. Dennoch zitiert Strahl Medizinhistoriker mit dem Wort von einer „erstaunlichen Empathielosigkeit“ und sah das Krisenmanagement in der jungen Bundesrepublik gescheitert.
150 Jahre Strukturwandel für Eilige
Eigentlich vermisst man in diesem hoch spannenden Haupttext des neuen „Schichtwechsel“ nur den einen oder anderen Literaturtipp. Denn gerade zur Spanischen Grippe sind im vorigen Jahr ebenso fundierte wie lesbare Werke erschienen.
Die Kunst der kompakten Darstellung verheißt beim Text zu 150 Jahren Strukturwandel schon die Schlagzeile: „Oberhausen komprimiert“. Dieser Coup gelingt auf straffen acht Seiten Dr. Magnus Dellwig. Der Leiter des Stadtarchivs hat damit den im Original immerhin 350 großformatige Seiten mächtigen sechsten Band der Stadtgeschichte blendend für Eilige in Fasson gebracht. Von den zahlreichen Blickfängen der „Aufbruch macht Geschichte“-Ausstellung in der Ludwiggalerie blieb im Heft leider nur wenig.
Dafür erinnert der neue „Schichtwechsel“ auf Hochglanzpapier mit neun großen Fotos an die schwarz-weiße Kunst von Rudolf Holtappel, ebenfalls ein Ausstellungs-Highlight der Ludwiggalerie. Daneben würdigt das aktuelle Heft die im Vorjahr verstorbene CDU-Politikerin Hildegard Matthäus und porträtiert Marie Juchacz, denn nach der Gründerin der Arbeiterwohlfahrt ist nun auch in Oberhausen eine Straße benannt.
Info: Hoffnungsvoller Ausblick in den Mai
Aufgrund des Lockdowns gibt’s den aktuellen „Schichtwechsel“ für 3,50 Euro zwar nicht im Buchhandel – aber immerhin dort, wo noch Zeitschriften erhältlich sind. Bestellen lässt er sich zudem bei der Geschichtswerkstatt im Zentrum Altenberg, 0208 – 307 8350 oder per E-Mail an info@geschichtswerkstatt-oberhausen.de
Hoffnungsvoll stimmt die Rückseite des Heftes: Denn dort ist ganzseitig für den Himmelfahrtstag 13. Mai 2021 das nächste „Buchgestöber“ angekündigt, der größte Büchermarkt des Reviers im Zentrum Altenberg mit 200 Metern Bücherständen und großem Rahmenprogramm. Standanmeldung und Infos gibt’s bei der Geschichtswerkstatt.