Mülheim an der Ruhr. .

Situationen wie diese hatten die Organisatoren wohl im Sinn, als sie die Gedenkveranstaltung zur Bombennacht vor 70 Jahren planten: Der 85-jährige Horst Heckmann sitzt an einem Tisch und ist umringt von Jugendlichen, die wissen möchten, wie er den Krieg erlebt hat. Ein Bericht, der ihren abstrakten Geschichtsunterricht konkret werden lässt. Der sich einprägt und zu macherlei Erkenntnis führt: „Es ist schwer, das emotional nachzuvollziehen“, sagt etwa Aaron Kraft (15). Und Sina Gräfenstein (16) ist „froh, dass wir in Frieden leben dürfen“. Den Zeitzeugen freut das rege Interesse. Er hofft, dass er den Schülern etwas mitgeben kann fürs Leben. „Krieg hat oft die gleichen Gründe“, warnt er beispielsweise; Großmachtstreben gehöre dazu.

Auf den Tag 70 Jahre nach dem schwersten Luftangriff auf Mülheim sind am Sonntagfrüh rund 150 Menschen ins Haus der Stadtgeschichte gekommen: viele ältere und alte, aber auch jüngere und junge. Walter Neuhoff (77), Günter Voß (75), Auguste Becker (75) und Erika Maxeiner (83) erzählen auf dem Podium von dem, was sie als Kriegskinder durchmachen mussten – und sie stellen sich den Fragen von Alina Gurski (15), Kevin Florian Pelz (16), Milena Hake (16) und Jule Dißmann (16).

Die Schüler stellten viele Fragen

Wo die Bunker gewesen sind, möchten die Schüler wissen, und ob man schnell dorthin kommen konnte. „Das gelang in höchstens 50 Prozent der Fälle“, schätzt Günter Voß. Weil der Alarm spät kam, habe man häufig nur Schutz suchen können in unzureichend gesicherten Kellern. „Hatten Sie da Angst?“ – „Und ob“, sagt Auguste Becker, „das ,Mein Gott’ fiel nicht nur einmal.“ Ob und wie die Bomben die Einstellung zu Hitler verändert hätten, interessiert die Schüler weiter. „Als alles den Bach runterging, glaubte keiner mehr an den Sieg“, so Becker, „aber das durfte man nicht sagen, sonst wäre man vielleicht im Konzentrationslager gelandet.“ Für Voß war Politik damals kaum ein Thema: „Wir waren ja gerade vier, fünf Jahre alt.“

Edith Schildberg war bereits 16 und Lehrling beim Textilgeschäft Berger und Lindner. Während des Angriffs saß sie im Keller des brennenden Kaufhauses, „und ich bekam keine Luft“. Sie überlebte, musste mit 17 aber zur Flak an die Ostsee – als Mädchen! Was die „Flak“ sei, fragen die Zuhörer. Und die 86-Jährige bemerkt: „Ach ja, das könnt ihr gar nicht wissen. . .“ Gespräche wie dieses schließen Wissenslücken – ebenso tun es Schulprojekte. Am Heißener Gymnasium etwa fahren Elftklässlern nach Auschwitz und auf einen Soldatenfriedhof. Wozu das dient, erklärt Schulleiterin Sigrun Leistritz: „Wenn wir es schaffen, dass die jungen Menschen Mut genug haben, sich notfalls gegen ein politisches System zu wehren, dann haben wir schon viel gewonnen.“

„Keine einseitige Betrachtung“

Im Vorfeld des Gedenktages hatte es kritische Töne gegeben von einer Gruppe namens „Gewisser Überdruss“. Sie warf der Stadtverwaltung u.a. vor, das Bombardement frei vom Kontext darzustellen und zu betrauern. Argumente, die sich gestern auf Plakaten von rund 30 Demonstranten vor dem Haus der Stadtgeschichte wiederfanden – und später auch bei einer Demo in der Innenstadt.

Oberbürgermeisterin Dagmar Mühlenfeld und Dr. Kai Rawe, Leiter des Stadtarchivs, gingen darauf ein. So sprach Mühlenfeld hinsichtlich der Proteste von demokratischem Selbstverständnis und politischer Wachsamkeit. Die Sorge vor einseitiger Betrachtung der Geschehnisse sei jedoch unbegründet: Man wisse genau, dass der Krieg von Deutschland ausgegangen sei – von einem menschenverachtenden System, das sehr viele bejahten. Rawe belegte das mit eindrucksvollen Zahlen: Bei der Wahl 1933 erhielt die NSDAP in Mülheim 37,6 % der Stimmen – bei einer Beteiligung von 90 %.