Gegen halb elf kommen sie mit der Straßenbahn an: Jugendliche, die dadurch auffallen, dass einige von ihnen schwarze Mützen tragen. Die Polizei, offenbar darin geübt, solche Merkmale zu deuten, erkennt aber sogleich, dass sie es hier nicht etwa mit den Schülern zu tun hat, die bei der gleich beginnenden Gedenkveranstaltung sprechen sollen. Nein, diese jungen Leute wollen an der Demonstration teilnehmen, die von sogenannten antifaschistischen Gruppen organisiert worden ist. Angesichts der Demonstranten-Zahl - rund 30 Personen - ist die Polizei erstaunlich stark präsent. Mehrere Einsatzwagen parkten vor dem Haus der Stadtgeschichte.
Protest fehlt Anlass
Bereits im Vorfeld hatten die Demo-Organisatoren in E-Mails an die Stadt und andere den Vorwurf erhoben, es solle ein „Opfermythos“ kreiert werden. Allerdings war die Tatsache, dass der Bombenangriff in die Geschichte eingeordnet werden muss, also der Zusammenhang von Ursache und Wirkung nicht vergessen werden darf, von der Stadt nie in Frage gestellt worden. Kurz: Dem Protest fehlte der sachliche Kern. Was blieb war die Lust an der Provokation. Doch dieser Ansatz ging nicht auf. Am Rand postiert, sorgten zweifelhafte Plakate wie „Was habt ihr erwartet ? Care-Pakete? Scheiß Nazis“ nicht für die erhoffte Empörung. Und die Ska-Musik, die dazu erklang, drang auch nicht bis in den überfüllten Vortragssaal im „Haus der Stadtgeschichte“ vor.
Dort nahm das offizielle Gedenkprogramm seinen Lauf.
Differenzierende Reden
Statt draußen auf der Straße zu bleiben, hätten die Demonstranten sich in den Saal begeben sollen. Der sei nämlich für sie offen, wie Oberbürgermeisterin Mühlenfeld in ihrer Rede betonte. Und auch sonst hätte das, was dort zu hören war, die Demonstranten beruhigen müssen. Es sei für sie „absolut nachvollziehbar“, Sorge über ein falsches Geschichtsbild zu äußern, so die OB. Nur seien in dem aktuellen Fall solche Befürchtungen unbegründet. Denn im Mittelpunkt des Gedenkens stehe keine Relativierung der historischen Schuld, es gehe vielmehr darum aufzuzeigen, welche Katastrophe ein Krieg für die Menschen darstelle. So ziele das Gedenken in die Zukunft. Sie gelte es vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrung zu gestalten: „Der Friede ist der Ernstfall, für den es sich lohnt, im Zweifel auch zu kämpfen.“
Die gleiche Richtung verfolgte auch Stadtarchivar Kai Rawe in seinem Vortrag. Der Historiker übernahm interessanterweise sogar eine Formulierung der Demonstranten: Der Bombenangriff sei tatsächlich nicht „vom Himmel gefallen“. Er sei keine Naturkatastrophe, aber gewiss eine Katastrophe gewesen. Doch habe diese bereits am 30. Januar 1933 begonnen. Weiterhin betonte er: In Mülheim habe es mit den Röhrenwerken und der Friedrich-Wilhelms-Hütte kriegswichtige Betriebe gegeben. Die Stadt war also aus Sicht der Alliierten ein wichtiger strategischer Punkt. Wie überhaupt Mülheim ein wichtiger Wirtschaftsstandort gewesen sei. Ein Beleg dafür, die überdurchschnittlich hohe Zahl der Zwangsarbeiter: 25 000.
Die beiden Reden von Mühlenfeld und Rawe setzten klare Vorzeichen für den nächsten Programmpunkt. Auch dieser war im Vorfeld umstritten. Vier Schüler befragten vier Zeitzeugen. Hier zeigten sich eher methodische Schwierigkeiten. Zwar boten die Zeitzeugen durchaus interessante Einblicke in die Lebenswirklichkeit vor 70 Jahren., doch es kam kein richtiges Gespräch auf. Die Fragen der Schüler waren, der Regie folgend, vorformuliert. Ihre Fragen dienten eigentlich damit nur als Impulsgeber für die Zeitzeugen-Berichte, entsprechend hölzern war der Verlauf des Gesprächs.
Allerdings zeigte sich im Anschluss, dass dies vor allem dem Format geschuldet war, und nicht etwa dem mangelnden Interesse der Schüler. Die Jugendlichen, die sich an der Otto-Pankok-Schule, der Realschule an der Mellinghofer Straße und dem Gymnasium Heißen im Unterricht mit dem Thema bereits auseinandergesetzt hatten, nutzten nämlich lebhaft die Chance, nach dem Ende des offiziellen Teils, mit Zeitzeugen ins Gespräch zu kommen (siehe Kasten).
Im Foyer waren Tische aufgebaut. Plätzchen lagen bereit: Aber gerade diese Kaffeekränzchen-Atmosphäre hat den richtigen Hintergrund gebildet. So wurden Schwellen abgebaut und die Ansprache erleichtert. Hier kamen die Generationen nun viel unverkrampfter miteinander ins Gespräch. Dass so ein Dialog möglich und sowohl von den Jungen wie von den Alten erwünscht ist, ist ein Ergebnis dieses Tages.
Auch das ist erinnerungswürdig.