Mülheim. .

Heute ist man für Menschen mit psychischen Störungen mehr sensibilisiert, wenngleich diese Krankheiten immer noch verheimlicht, verschwiegen und nicht ernst genommen werden. Es sind die seelischen Leiden, die uns in der schnellen Funktions- und Konsumgesellschaft zunehmend auffressen. Georg Büchners Drama um den einfachen Soldaten „Woyzeck“, das er vermutlich 1836 schrieb, fußt auf einem realen Fall.

Es ging um Johann Christian Woyzeck, Sohn eines Perückenmachers, der aus Eifersucht am 21. Juni 1821 die Witwe Johanna Christiane Woost in einem Hausflur in der Leipziger Sandgasse erstach. Im Prozess wurden zwei medizinische Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten erstellt. Nach einem langen Verfahren, in dem sich sogar der sächsische Thronfolger für ihn einsetzte, wurde Woyzeck verurteilt und am 27. August 1824 auf dem Marktplatz in Leipzig hingerichtet.

Versuchskaninchen

Auch Büchners Woyzeck hört immer wieder Stimmen, hat den Kopf voller lauter, dröhnender Geräusche: Zeichen, die für Schizophrenie sprechen. Aber anstatt ihm zu helfen, benutzt ihn der ehrgeizige Arzt als Versuchskaninchen, verordnet ihm eine Erbsen-Diät, die seine Mangelerscheinungen nur verschlimmert. „Ein interessanter Fall mit einer fixen Idee“, befindet der Doktor. Fabio Menéndez gibt den arroganten Egomanen in Weiß.

„Hat er seine Erbsen gegessen?“ redet er den blassen Woyzeck (Rupert J. Seidl) in der dritten Person an, wie es damals üblich war. Der sagt kurze Zeit später „Herr Doktor, mir wird dunkel“ und fällt zu Boden. Mit ihm das Glas Erbsen, das beim Aufprall zerscheppert, worauf die kleinen grünen Kugeln über die Bühne rollen. „Damit habe ich jetzt nicht gerechnet, dass das Glas zerbricht“, sagt der Schauspieler. Das Team fegt kurz. Dann wird die Szene noch mal geprobt. Diesmal hält Seidl das Glas beim Fallen schön fest. Ja, auch so etwas will geübt sein.

Das Ensemble am Raffelberg ist aus den Ferien zurück und steckt mitten in den Proben für Roberto Ciullis neue Inszenierung „Woyzeck. Ein musikalischer Fall“. Der Zusatz deshalb, „weil Musik in dem Stück eine zentrale Rolle spielt“, erläutert Ciulli. Sie ist das Pendant zum Kopf von Woyzeck, der voller Stimmen und Geräusche ist. Das Orchester sind die Schauspieler selbst. Sie sitzen im hinteren Bereich der Bühne vor Notenständern, spielen Geige, Trompete, Trommeln, Cello, weitere Instrumente und auch mit Erbsen gefüllte Gläser kommen als Rasseln zum Einsatz, um die Gefühlslage von Woyzeck zu unterstreichen. Das können leichte Trommelschläge im Rhythmus des Herzens sein, eine schräg klingende Cello-Seite, Katzenjammer oder ein wunderbar schwungvolles Lied im Cafehaus-Stil. Die Kompositionen hat Matthias Flake speziell für das Stück geschrieben und bei den Proben werden sie vom Ensemble erarbeitet.

Prozess intensiver Teamarbeit

Szenen werden wiederholt, es wird an Auftritten, an Körperhaltung, dem Ausdruck, an Anschlüssen, wann und wie jemand ins Geschehen kommt, gefeilt. Die Strichfassung des Textes hat Dramaturg Helmut Schäfer in bewährter Weise besorgt. Nach nur einer halben Stunde zusehen wird klar, wie viel harte Arbeit darin steckt, bis Szene für Szene miteinander verschmolzen sind, bis eine homogene Gesamt-Inszenierung entsteht. Dabei kommt es auf jedes Detail an. Es ist ein Prozess intensiver Teamarbeit. „Ganz normal“, sagt Ciulli später. „Probenarbeit ist immer wie in der 'Göttlichen Komödie' von Dante. Es gibt Höhen und Tiefen, Zusammenbrüche und Glücksmomente.“

Nach „Leonce und Lena“ sowie „Dantons Tod“ ist der „Woyzeck“ nun der dritte Büchner, den Ciulli am Theater an der Ruhr inszeniert. „Alle Stücke von Büchner sind Klassiker und immer aktuell. Es ist die Qualität von Büchner. Man kann ihn immer wieder neu lesen und die Sprache ist wunderbar“, so der Theaterleiter: „Da braucht es keinen Aufhänger.“ Wenngleich sich das Thema ein bisschen wie ein roter Faden durch seine Arbeit zieht. Ende der 1970er Jahre hat Ciulli schon in Düsseldorf mit Inszenierungen in der forensischen Psychiatrie angefangen. Zuletzt sorgte er für Aufsehen, als er 2003 in der Landesklinik Langenfeld mit verurteilten Gewalttätern das Stück „Wie hast du geschlafen?“ mit großem Erfolg herausbrachte.