Mülheim. Warum schon heute nicht mehr gelten könnte, was gestern amtlich war: die Unzulässigkeit. Ein Lehrstück in Voreiligkeit

Dürfen die Bürger nun über den Bildungsstandort Eppinghofen abstimmen oder nicht? In dieser Frage, für deren Klärung sich bereits 13.000 Mülheimer ausgesprochen haben, überschlugen sich gestern Erkenntnisse, Ereignisse und Einschätzungen. Buchstäblich am Ende des Tages eröffnete der Mann, der am Dienstag noch zu einem klaren Nein tendierte, den Weg zu einem Ja.


Im Gespräch mit der NRZ sagte Stadtdirektor und Rechtsdezernent Frank Steinfort, dass er zu einer anderen Sichtweise neige, wenn heute der Landtag neue Regeln für Bürgerbeteiligung beschließt und rechtzeitig in Kraft setzt. Rechtzeitig für die Ratssitzung am nächsten Donnerstag.

Wer in Sachen Bruchstraße nur noch am Ergebnis interessiert ist, kann hier aufhören zu lesen und den letzten Absatz studieren. Er verpasst dann aber eine der bemerkenswertesten Episoden der jüngeren Mülheimer Politikgeschichte.


Was bisher geschah

Am Dienstag hatte Steinfort die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens verneint und dem Rat vorgeschlagen, es gar nicht erst zuzulassen. Begründung: Der Kostendeckungsvorschlag der Initiatoren sei nicht hinreichend. Genauer: es fehle der Hinweis, dass Geld, das in den Erhalt der Bruchstraße fließe, an einer anderen Stelle Verzicht bedeute. „An irgendeiner anderen Stelle“, wie Steinfort gestern präzisierte, nicht nur im Bereich der Bildung. So aber habe das Begehren den Eindruck erweckt, es gebe quasi extra Geld, über das man schadlos verfügen könnten. „Das hätte man klarstellen müssen.“

Wer nun denkt, Mensch, das hätte man dem Bündnis doch vorher sagen müssen, liegt richtig. Steinfort hat es gesagt und zwar am 24. August und gegenüber SPD-Parteigeschäftsführer Arno Klare, der als Mittler zwischen Stadt und Bündnis tätig war. Beide, der Dezernent und der Politiker, bestätigten gestern das Gespräch und die gleichsam amtliche Warnung. Steinfort: „Ich habe gesagt, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ist ein so formuliertes Begehren unzulässig“.

Klare sagt, dass er die Rechtsauffassung des Stadtdirektors nicht teilte und nicht teilt und verweist dazu auf juristischen Sachverstand, der hinzugeholt worden sei. Das Bündnis schloss sich dieser Sicht einstimmig an und blieb beim umstrittenen Text - aus Furcht vor bröckelnder Zustimmung. So blieb ein Hinweis auf die drohende Stolperfalle aus.

Massive Bedenken

„Der Glaube, das juristisch zu gewinnen, überwog“, sagte Klare gestern. Erstens standen damals über 8 Millionen Euro, die nach dem Aus für die Zukunftsschule übrig blieben, noch als „disponible Masse“ in den Büchern. Und zweitens könne ein Begehren doch nicht an einer solchen „Banalität“ scheitern. Ein Euro kann nur einmal ausgegeben werden: „Das weiß nun wirklich jeder“.

Steinfort betonte gestern, er habe unmöglich seine massiven Bedenken öffentlich äußern dürfen. „Das hätte man uns als Einmischung ausgelegt“. So unterschrieben wochenlang tausende Bürger, während die Stadtverwaltung gleichzeitig an einer Expertise arbeitete, warum diese Unterschriften zwecklos sind.

Absurd.

Was der Dienstag auslöste

Die Schattenseiten des Rechthabens kamen gestern auch Politikern und Behörden in den Sinn. Denn wirksam wäre Steinforts Rechtsmeinung erst, wenn der Rat sich ihr anschließt. Täte er es, fühlten sich erstens die Bürger „verschaukelt“ (MBI-Sprecher Lothar Reinhard) und ergäbe sich zweitens der Klageweg vor dem Verwaltungsgericht, um einen Entscheid zu erzwingen. Über den Rechtsweg aber könnte die Schule verhungern. Ob Gerichte vor dem Anmeldeverfahren für das nächste Schuljahr ein Urteil fänden, ist fraglich.

Also, Möglichkeit zwei: Der Rat schließt sich der Auffassung des Rechtsdezernats nicht an. Durchaus wahrscheinlich. Aus dem Viererbündnis sprachen sich nach der MBI auch FDP und Grüne für eine „politische Klärung“ aus. Der Haken: OB Dagmar Mühlenfeld müsste sozusagen von Amts wegen ihrem Stadtdirektor beistehen und den Beschluss anfechten. Darüber aber verginge erst recht so viel Zeit, dass die Schule erledigt wäre. Um die Minichance bei Möglichkeit 1 zu wahren, verständigte sich die SPD-Fraktion gestern Abend schon darauf, für die Unzulässigkeit des von ihr unterstützten Begehrens zu stimmen - damit sich der sofortige Klageweg auftut.

Absurd hoch zwei.

FDP-Fraktionschef Peter Beitz sprach denn auch entnervt von „juristischen Spitzfindigkeiten“ und der Stunde der Taktiker: „Jede Karte, die man spielt, könnte sich als falsch erweisen.“


Was wäre denn noch möglich?

Zum Beispiel Möglichkeit 3: Der Rat entledigt sich der Fallstricke um das Begehren, indem er selbst initiativ wird und einen Ratsbürgerentscheid zu der Fragestellung beschließt. Juristisch wäre das kein Problem, dem zentralen Bedenken des Rechtsamts ließe sich durch eine redaktionelle Änderung Genüge tun, glaubt SPD-Vorsitzender Lothar Fink. Allerdings: Für diese Lösung bräuchte es eine Zweidrittel-Mehrheit.

Ist das realistisch?

Fraglich. Die CDU beispielsweise äußerte sich gestern beinhart. Dass der Finanzierungsvorschlag fehlte und das Verfahren damit nicht sauber sein konnte, habe er von Beginn an moniert, sagte Fraktionschef Wolfgang Michels.. „Es wurden Unterschriften unter Vorspiegelung falscher Tatsachen gesammelt“, kritisiert er. Und noch schärfer: „Da wurden gutgläubige Menschen getäuscht.“ Wenn es darum gehe, etwas kaputt zu machen, könne man immer leicht die Massen mobilisieren. Er spricht vom Bildungsentwicklungsplan, der kaputt gemacht werden soll, nicht von der Schule, die aus seiner Sicht „kein Mensch braucht“.

Mutig. 13.000 Mülheimer sahen das anders.

Worüber die Politik also den Tag über sprach

Die Emissäre knüpften sehr diskret sehr zaghafte Bande, getragen von dem Wunsch nach Schulfrieden und endlich, endlich einer Entscheidung. Zwar sagte Beitz, dass ein Votum seiner Fraktion noch offen wäre. Ein Ratsbürgerentscheid, der die Wähler an die Urnen ruft, könnte indes eine Lösung Marke klare Kante sein. „Wir können nicht etwas beschließen, was dann wieder kassiert wird“, sagte er mit Blick auf die heutige Landtagssitzung, die die Rahmenbedingungen von Bürgerbegehren neu regelt - unter tätiger Mithilfe der liberalen Landtagsfraktion.

Noch größer ist die Zwickmühle für die Grünen, sind die doch in Düsseldorf Initiator der Landesnovelle, ist Bürgerbeteiligung ein grünes Urthema. Er strebe einen Ratsbürgerentscheid nicht an, sagte gestern Grünen-Fraktionschef Tim Giesbert, ließ in der Formulierung aber offen, ob er ihn denn dulden würde. Immerhin, Steinfort zu überstimmen und die Zulässigkeit des Begehrens festzustellen, dazu bekannte sich Giesbert; nicht ohne zu betonen, dass die Grünen nach wie vor die Auflösung der Hauptschule Bruchstraße befürworten. Er sei sich sicher, sagte Giesbert, dass die Mehrheit der Mülheimer die „einseitige Bevorzugung“ einer einzelnen Hauptschule nicht will. Aus Juristerei hielt er sich aber heraus, die aktuellen Wertungen und Wendungen kommentierte er nicht.


Eine nicht unbegründete Vorsicht. Denn die bisherige Haltung und Beschlussvorlage des Rechtsdezernenten muss nicht, siehe oben, das letzte Wort gewesen sein. Das liegt nur bedingt am neuen Landesgesetz und dem Zeitpunkt seiner Rechtskraft, sondern an tieferer Einsicht in die gerichtliche Praxis.

Das ist damit gemeint?

Beschließen wird der Landtag heute voraussichtlich mit den Stimmen von SPD, Grünen, Linke und bei Enthaltung der FDP, dass künftig die Hälfte der bisherigen Bürgervoten reicht, um Räte in strittigen Fragen zu überstimmen. Noch wichtiger: Der Zwang zum Kostendeckungsvorschlag entfällt. Er obliegt künftig den Behörden. „Gerade weil die meisten Begehren daran gescheitert sind und Anlass für Streit und Gerichtsverfahren boten, wollen wir das bürgerfreundlicher regeln“, bestätigte der Grünen-Landtagsabgeordnete Mehrdad Mostofizadeh der NRZ. Er geht sogar davon aus, dass das Gesetz nicht erst im Januar, sondern schon früher, „maximal binnen einer Woche“, veröffentlicht wird und Rechtskraft erlangt.

Für Steinfort ist inzwischen weniger dieser Termin ausschlaggebend. Er sieht viel weiter in die Zukunft. Nach erklärter Unzulässigkeit und einer Klage droht im nächsten Jahr ein Gerichtsverfahren. In dem wäre formal zwar „höchstwahrscheinlich“ das alte Recht maßgeblich, wie es auch aus dem Innenministerium heißt. Die Richter aber würden wohl kaum die neue Rechtslage und den Willen des Gesetzgebers aus dem Kopf bekommen. „Auch Verwaltungsrichter leben in dieser Welt“, kommentierte ein Ministerialer trocken.

Was das konkret heißt?

Sobald der endgültige Gesetzestext vorliegt, wird Steinforts Rechtsamt, wie er sagte der Frage nachgehen, ob das Begehren zulässig gewesen wäre, wenn das neue Gesetz schon gegolten hätte. Da für das Bündnis ein Kostendeckungsvorschlag entfallen wäre, liegt die Antwort nahe. Gut denkbar, dass die Beschlussvorlage der Stadtverwaltung von Dienstag dann eine Neuauflage erfährt; etwa mit dem Ratschlag, die Zulässigkeitsfrage, also die einzig strittige , im Sinne höherer Rechtssicherheit niedriger zu hängen.

So niedrig, dass sie den Entscheid nicht verhindert.