Mülheim. Die Vier-Tage-Woche gilt manchen als Allheilmittel gegen den Fachkräftemangel. Mülheimer Experten sagen, wie das Modell gelingt – und wie nicht.
Arbeitskräfte fehlen nahezu in jeder Branche. Um potenzielle Mitarbeitende zu gewinnen, bleibt Unternehmen nichts anderes übrig, als sich attraktiv zu machen für Bewerber. Flexiblere Arbeits- (zeit)modelle wie die Vier-Tage-Woche sollen dazu dienen, den Wettstreit nicht nur um junge Arbeitskräfte für sich zu entscheiden.
Sie scheint manchem als Allheilmittel für Fachkräftemangel und demografischen Wandel zu gelten: die Vier-Tage-Woche. Doch ganz so einfach ist es nicht, meint Paiman Minavi, Mitgründer von Migosens, einem Mülheimer Unternehmen, das vor allem mittelständische Firmen berät, die sich mit verschiedenen Arbeitsmodellen auseinandersetzen, um mit dem Wandel in der Arbeitswelt mithalten zu können. „Wir betrachten die Vier-Tage-Woche als ein Arbeitsmodell von vielen. Aber sie ist so etwas wie die Kirsche auf der Sahne“, betont Minavi. Bevor ein Betrieb so weit sei, um die Herausforderungen dieser Arbeitsweise meistern zu können, müsse eine ganze Reihe an Rahmenbedingungen geschaffen werden, skizziert der Experte und mahnt: „Wenn die Grundlagen fehlen, kann das nach hinten losgehen.“
Mülheimer Fachmann zur Vier-Tage-Woche: Belegschaft einbeziehen
Die aus seiner Sicht wichtigste Basis nennt Minavi gleich zu Beginn: „Man muss die Belegschaft einbeziehen.“ Denn die Mitarbeiterzufriedenheit sei das entscheidende Instrument zur Bindung oder Gewinnung von Kräften. „Unser Ansatz ist: Die Mitarbeitenden sollen sich schon am Freitag auf Montag freuen“, will der Fachmann motivieren, Arbeitnehmern Anreize zu schaffen, gerne zur Arbeit zu gehen. Das bewirke nicht die Vier-Tage-Woche – zumindest nicht alleine.
Auch ein Rückblick in die Geschichte und auf die Umbrüche in der Arbeitswelt lohne, sagt der Fachmann. Mitte des 19. Jahrhunderts etwa war eine Wochenarbeitszeit von rund 70 Stunden noch normal. Betrachte man die Entwicklungen seitdem, meint Minavi, sei die Vier-Tage-Woche heute berechtigt.
Vor ihrer Einführung stehe für das jeweilige Unternehmen aber erstmal Arbeit an: Genau unter die Lupe genommen werden sollte, wie Prozesse laufen, wie Arbeitsweisen funktionieren – wenn dort schon vieles optimiert worden sei, könne man als letzte Maßnahme die Vier-Tage-Woche angehen – und sollte sie erstmal in einer Abteilung ausprobieren. „Und schließlich anhand der Erfahrungen entscheiden, ob man sie ausrollen will oder nicht“, betont der Migosens-Mitgründer.
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Manchmal erlebe er in seinem Beratungsalltag, dass sich Betriebe nach einer Testphase von dem Plan, nur noch an vier Tagen zu arbeiten, erst einmal verabschieden. „Dann war das Unternehmen einfach noch nicht soweit“, ermuntert Minavi, die Erkenntnis als Gewinn zu verbuchen. Er ist überzeugt: „Die Vier-Tage-Woche ist gekommen, um zu bleiben. Sie hat nachgewiesene Vorteile – für die Gesundheit und Zufriedenheit der Mitarbeitenden und auch für den Umsatz.“
Lebensmittel nur noch an vier Tagen in der Woche einkaufen können – undenkbar?
Kritisch sieht hingegen der hiesige Unternehmerverband die Möglichkeit, die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt mehrheitlich in Teilzeit zu betreiben. „Innovative Arbeitszeitverteilungen sind nicht überall machbar. Einfach, weil die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen von einer optimalen Betriebsnutzungszeit abhängt – etwa, weil Anlagen gleichmäßig ausgelastet sein, Lieferungen schnell erfolgen oder Dienstleistungen, etwa im Einzelhandel, zu festen Zeiten erbracht werden müssen“, ordnet Wolfgang Schmitz, Hauptgeschäftsführer der Unternehmerverbandsgruppe, ein.
Das bestätigt Marc Heistermann, Geschäftsführer des auch für Mülheim zuständigen NRW-Handelsverbandes Ruhr: „Für den Händler stehen die Einkaufsbedürfnisse seiner Kundinnen und Kunden im Mittelpunkt. Gerade im Bereich der Nahversorgung, etwa bei Lebensmitteln, sind diese mit einer Vier-Tage Woche nur schwer in Einklang zu bringen.“
Denn wo für Beschäftigte in anderen Branchen der Reiz einer Vier-Tage Woche häufig durch den freien Freitag in einem verlängerten Wochenende liege, erführen Einzelhändler gerade an diesen Tagen den größten Zulauf. „Da es wirtschaftlich nicht zu verkraften wäre, zu den Haupteinkaufszeiten zu schließen, ginge es letztlich dann um die Frage, wie Personal eine Vier-Tage Woche ermöglicht werden kann, obschon das Geschäft weiterhin sechs Tage geöffnet bleibt“, verdeutlicht Heistermann, der bilanziert: „Mit Blick auf die auch im Handel angespannte Personalsituation ein kaum lösbares Unterfangen.“
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Bei Handelszweigen aber, in denen zu bestimmten Zeiten kaum etwas los ist, könne die Situation eine andere sein, meint der Chef des Handelsverbandes, denn: „An Tagen oder zu Öffnungszeiten, wo regelmäßig nur wenige Kunden kommen, kann eine Ladenschließung zu verschmerzen, ja vielleicht sogar sinnvoll sein.“
Agentur für Arbeit: Bewerber äußern heute andere Bedürfnisse
Kaum eine andere Instanz erfährt deutlicher, wie sehr sich der Arbeitsmarkt und auch die Bedürfnisse der Bewerber gewandelt haben, als die Agentur für Arbeit. Gabriele Sowa, Geschäftsführerin der Arbeitsagentur für Mülheim und Oberhausen, schildert: „Nicht erst die Corona-Pandemie hat zu einer Dynamik in der digitalen Transformation geführt – das macht was mit den jungen Menschen, die ticken heute anders.“ Ein Großteil der jungen Leute starte mit einer anderen Einstellung ins Berufsleben, als noch vorangehende Generationen, beobachtet die Chefin der Arbeitsagentur: „Ihnen sind Werte wie ein gutes, wertschätzendes Arbeitsklima und Sinnhaftigkeit im Job besonders wichtig.“
Dass die heutigen Bewerber aber per se auf die Vier-Tage-Woche pochen, kann Sowa nicht bestätigen, wohl aber, dass die Vereinbarkeit von Arbeit und Freizeit sowie Familie bei den Jüngeren einen viel höheren Stellenwert habe. „Wenn die Konsequenz einer Vier-Tage-Woche aber ist, dass man länger arbeitet und abends keine Zeit mehr für etwas anderes hat, ist das auch nicht für jeden das Richtige.“
Wir sind auf der Suche nach Mülheimer Unternehmen, in denen die Vier-Tage-Woche bereits gelebte Praxis ist. Wenn das in Ihrer Firma bereits der Fall ist, melden Sie sich gerne bei uns: redaktion.muelheim@waz.de.
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