Mülheim. In einem unscheinbaren Haus in Mülheim kommen ehemalige Obdachlose unter. Wir haben mit jenen gesprochen, die auf der Straße lebten.
Was braucht es, damit ein Leben aus den Fugen gerät? Wer an der Gefährdetenwohnstelle an der Kanalstraße vorbeischaut und mit Bewohnern spricht, erfährt bewegende Antworten auf diese Frage. Gefährdetenwohnstelle - was sperrig klingt, steht für einen Zufluchtsort. Einen für Männer, die irgendwann gestrauchelt sind, ihre Wohnung verloren, auf der Straße gelebt in der Notschlafstelle nebenan untergekommen sind.
„Die Menschen kommen mit sehr komplexen Problemen zu uns. Die meisten sind bereits über 60“, sagt Jonathan Dreisbach, der die Einrichtung für die Diakonie leitet und an drei Tagen in der Woche nach dem Rechten sieht. Er hat zuvor als Streetworker gearbeitet und kennt viele der Männer seit langem. Er weiß: Sucht, Verschuldung, das Zerbrechen von Familienstrukturen und Resignation sind die Gründe, warum jemand erst auf der Straße und dann in einem Haus wie diesem landet.
Einer von ihnen ist Reinhard. Bis zu seinem „Absturz“, wie er es nennt, ist ein halbes Leben vergangen. Der 71-Jährige kam als kleiner Junge nach Mülheim, nachdem sein Vater hier eine Anstellung als Bergmann gefunden hatte. Bis Mitte 40 ist sein Lebensweg mit dem vieler anderer vergleichbar. Er machte Abitur oder, wie er sagt: „Ich war Saisonarbeiter, habe entweder nichts gelernt oder alles auf einmal.“
Von der Stadtverwaltung auf die Straße - Schuld war der Feind Alkohol
Anschließend studierte er ein paar Semester Wirtschaftsrecht, kam erst bei der Mülheimer Stadtverwaltung unter und arbeitete dann 18 Jahre lang beim Finanzamt. „Dann ging meine Ehe auseinander und der Alkohol kam dazu. Der war immer mein Feind“, erinnert er sich. Er verlor seinen Job, machte eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, beantragte mit 47 eine Umschulung zum Sozialarbeiter, die ihm verwehrt wurde. „Ich war frustriert. Es passierte nichts Schlimmes, aber es ging auch nichts voran.“ Wieder begegnete ihm sein Feind, der Alkohol.
Reinhard rutschte in die Schulden ab und landete erst auf der Straße und dann an der Kanalstraße. Das ist jetzt 14 Jahre her. Heute ist der „Professor“, wie er hier genannt wird, der dienstälteste Bewohner der Gefährdetenwohnstelle und sagt: „Es ist ziemlich ruhig geworden hier. Früher stand auch schon mal die Polizei vor der Tür.“ Heute sei das anders. Das Verhältnis zu den Nachbarn sei gut. Eine Nachbarin mit grünem Daumen hat ihm eine Pflanze aufgepäppelt. Ein ehemaliger Bewohner mäht bei anderen Nachbarn den Rasen.
Der neue Mülheimer ÖPNV ist ein Problem, das verbindet
Ein gutes Verhältnis zur Nachbarschaft sei bei einer Einrichtung wie dieser wichtig, sagt Leiter Jonathan Dreisbach. Deshalb hat die Diakonie am Freitag zum großen Nachbarschaftsfest mit Grillen und Kuchen eingeladen. Das Fest war gut besucht, die Bierbänke gefüllt. Aktuell gibt es außerdem ein gemeinsames Problem, das verbindet: Sowohl die älteren Anwohner der Straße als auch die teils gehbehinderten Bewohner der Gefährdetenwohnstelle leiden unter dem Wegfall der Bushaltestelle Cäcilienstraße. Seit der Fahrplan-Umstellung müssen sie alle bis zum Schloß Broich laufen. „Das geht für manche nicht mal eben. Und wenn man einkaufen war, ist es ganz schwierig“, sagt Ralf Erdtmann.
Der 56-jährige gebürtige Mülheimer wohnt seit knapp zwei Jahren in der Wohnstelle. Sein Leben nahm eine Wendung, als er seinen ursprünglichen Beruf als Konditor nicht mehr ausüben konnte und zum Schriftsetzer umschulte. Mietschulden haben schließlich zum Rauswurf aus der Wohnung geführt. „Die Adresse von der Notschlafstelle habe ich gleich von der Gerichtsvollzieherin bekommen.“ Ralf Erdtmann träumt davon, wieder in eine eigene Wohnung zu ziehen. „Ich komme aus Heißen und will da auch wieder hin. Aber es ist schwierig geworden für mich.“
Ein eigenes Badezimmer nach 14 Jahren wäre schön
Und was sind Reinhards Wünsche nach 14 Jahren Gefährdetenwohnstelle? „Irgendwann hätte man ja schon ganz gerne mal wieder sein eigenes Badezimmer. Aber da muss sich erst mal ein Vermieter finden.“ Das kann Jonathan Dreisbach bestätigen. Alleinstehende Männer, die von Bürgergeld leben, seien bei Vermietern nicht gerade gefragt. Daneben machen auch die komplexen Lebenssituationen der Männer ein komplett selbstständiges Leben unwahrscheinlich. Das zeigt auch die kaum vorhandene Fluktuation in der Einrichtung. Im vergangenen Jahr haben 13 alleinstehende Männer in den zehn Einzel- und einem Doppelzimmer gelebt. Nur einer von ihnen ist im Jahresverlauf in eine eigene Wohnung gezogen.
„Die Gefährdetenwohnstelle ist eine wichtige Auffangstation“, betont Ralf Erdtmann am Ende des Gesprächs. Einrichtungsleiter Jonathan Dreisbach ergänzt: „Für viele ist das nach der Straße und der Notschlafstelle die erste Möglichkeit, mal wieder eine Tür hinter sich zuzuziehen und seine Ruhe zu haben.“