Mülheim. Ein Besuch in einer Mülheimer Obdachlosen-Einrichtung zeigt: Die Inflation wird auch dort zunehmend zum Problem. Ein Gespräch mit Betroffenen.
Dass das Leben sie zusammenführt, haben Jürgen P. (59) und Ralf E. (54) nicht geahnt. Die Ur-Mülheimer haben solide Ausbildungen gemacht, jahrelang autark gelebt. Irgendwann aber lief’s nicht mehr rund. Den Älteren warf eine Eigenbedarfskündigung aus der Bahn, den Jüngeren ein kürzerer Gefängnisaufenthalt. Ihr Weg wurde steinig, sie landeten auf der Straße. Und letztlich via Notschlafstelle in der Gefährdetenwohnhilfe an der Kanalstraße. Das soll keine Sackgasse sein, betonen beide. Eine eigene Wohnung wäre schön – aktuell aber treibt sie vor allem eines um: die teurer werdenden Lebensmittel.
Es schlägt aufs Gemüt, jeden Cent umdrehen zu müssen und nie mehr einfach einkaufen zu können, worauf man gerade Lust hat. „Früher haben wir öfters mit drei, vier Leuten zusammengeschmissen und uns einen Braten gegönnt“, so Jürgen P., der seit vier Jahren in der Einrichtung lebt. Dieses Vergnügen sei jetzt noch höchstens einmal im Monat drin. Die hohe Inflation bereite Bauchschmerzen. Immer häufiger gebe es „Billigsuppe“; jeder Prospekt von Supermärkten werde nach Angeboten durchforstet. Nur so kommt P. mit seinem Hartz IV-Satz hin. „Zum Glück gibt’s bald das Bürgergeld“, monatlich gut 50 Euro mehr.
Ehemaliger Obdachloser: „In meiner Welt gibt’s keinen Krieg. Und so auch keine Ängste.“
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Zimmergenosse Ralf E. ist froh, dass er seit zehn Jahren „nur Obst und Gemüse“ isst, „weil’s billiger ist“. Trotzdem geht er hin und wieder zur Tafel an der Georgstraße. „Die aktuelle Situation verunsichert im Haus viele“, sagt P., „sie haben Schiss.“ Im gemütlichen Zimmer der Männer ist die Laune trotzdem gut. E. hat seinen eigenen Weg im Umgang mit den beängstigenden Nachrichten gefunden: „Ich denke einfach nicht darüber nach. In meiner Welt gibt’s keinen Krieg. Und so auch keine Ängste.“
Eine Strategie, die nicht bei vielen funktioniert. In der Beratungsstelle des Diakonischen Werkes an der Auerstraße suchen immer häufiger besorgte Menschen das Gespräch, berichtet Sozialarbeiter Patrick Bahr. „Wir haben deutlich mehr zu tun.“ Oft gehe es dort darum, dass am Ende des Monats einfach kein Geld mehr da ist, um sich satt zu essen. Meist könne man unkompliziert helfen: mit einem Gutschein für eine Mahlzeit in der Teestube oder durch die Weitergabe von Lebensmittelspenden.
Wunsch der Mülheimer Diakonie-Mitarbeiter: Deutlich mehr Essensspenden
Von denen bräuchte man deutlich mehr, sagt der stellvertretende Abteilungsleiter der Ambulanten Gefährdetenhilfe. Zu Weihnachten oder Ostern brächten Bürger etwas vorbei – doch auch im Rest des Jahres seien Essensspenden willkommen. Geeignet sind Vorräte, die lange haltbar sind, oder ohne Kochen verzehrt werden können. Auch Spendengelder werden angenommen.
Das Thema Energiekosten gibt’s mittlerweile ebenfalls oft in den Beratungsgesprächen. Diakonie-Geschäftsführerin Birgit Hirsch-Palepu, die am Freitag mit Vertretern von Wohlfahrtsverbänden, aus der Verwaltung, der Politik usw. zum Nachbarschaftsfest an der Kanalstraße zusammenkam, sorgt sich vor allem um die Menschen, die zwar keine staatlichen Leistungen beziehen, aber trotzdem nur wenig Geld haben. „Alleinerziehende Mütter, Rentner, Witwen. . .“ Damit auch diesen Menschen verlässlich geholfen werden kann, seien „ein gutes Netzwerk“ und „leicht zugängliche“ Informationen nötig.
„Kein Mensch soll sich bedürftig fühlen“, sagt Hirsch-Palepu. „Aber jeder muss wissen, was ihm von Staats wegen zusteht.“ Jeder solle sich „ohne Scheu“ an die Wohlfahrtsverbände wenden können. „Von dieser Krise kann jeder existenziell betroffen sein.“
2021 nutzten 72 Männer und 20 Frauen die Mülheimer Notschlafstellen
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In der Gefährdetenwohnhilfe leben aktuell zwölf Männer, in der Notschlafstelle nebenan acht. 2021 nutzten 72 Männer und 20 Frauen die über die Stadt verteilten Notschlafstellen; 2022 waren es bislang 69 Männer und 26 Frauen. Jeder, der untergebracht werden möchte, bekommt einen Platz. Notfalls muss die Stadt weitere Häuser zur Verfügung stellen. Da aktuell auch viele Flüchtlinge in der Stadt sind, fürchtet Jonathan Dreisbach, Leiter der Einrichtung Kanalstraße 7, „dass es in diesem Winter sehr voll wird“. Die Stadt werde die Kapazitäten zwar schaffen, „aber es kann sie ins Schwimmen bringen“.
Mülheims Sozialamtsleiter Thomas Konietzka bleibt dennoch gelassen: „Noch ist unklar, was überhaupt passiert.“ Und falls tatsächlich sehr viel mehr Menschen als bisher Hilfe benötigten, sei man vorbereitet: durch die bewährten Hilfeeinrichtungen und die Menschen, die seit Jahren in den Bereichen arbeiten. Trotz Energie- und Lebensmittelkrise: Konietzka ist „verhalten optimistisch“ und traut sich zu sagen: „Wir wuppen das.“