Mülheim. Die Mülheimer Diakonie feiert ihr 100-jähriges Bestehen. Birgit Hirsch-Palepu, die Geschäftsführerin, äußert sich dazu im Interview.

Rund 14.000 Menschen finden jährlich bei der Diakonie Rat und Hilfe, sie ist für 250 Menschen Arbeitgeber. Seit genau 100 Jahren gibt es den bundesweit aktiven Sozialverband der Evangelischen Kirche (aktuell 42.700 Mitglieder in Mülheim) auch in unserer Stadt. Was sagt Birgit Hirsch-Palepu, Geschäftsführerin der Mülheimer Diakonie, zum runden Geburtstag? Ein Gespräch.

Was ist für Sie der rote Faden, der sich durch 100 Jahre Diakonie zieht?

Die gelebte Nächstenliebe. In all unserem Wirken als Wohlfahrtsverband der Evangelischen Kirche in Mülheim steht stets das Wohl der von uns begleiteten und betreuten Menschen im Mittelpunkt – und das stets angepasst an ihre Bedürfnisse und Lebenssituation. So wie sich die Gesellschaft, der Alltag, seit 1921 geändert hat, hat sich auch das Diakonische Werk gewandelt. Angebote wurden entwickelt und ausdifferenziert. Im Kern geblieben ist der diakonische Anspruch, Menschen aufzufangen, die sonst durchs Raster fallen, Fürsprecher der Stummen zu sein und das Leid von Menschen durch lebenspraktische und unbürokratische Unterstützung zu lindern.

Birgit Hirsch-Palepu ist die Geschäftsführerin der Diakonie in Mülheim.
Birgit Hirsch-Palepu ist die Geschäftsführerin der Diakonie in Mülheim. © Diakonisches Werk Mülheim

Was ist für Sie die aktuell die größte Herausforderung für die Diakonie?

Die aktuelle Situation bringt verschiedene Themen mit, die mich derzeit beschäftigen und die ich als Geschäftsführerin des Diakonischen Werkes angehe. Da ist die Corona-Pandemie, die uns und unseren Klientinnen seit anderthalb Jahren viel abverlangt. Verbunden damit ist die Digitalisierung, die mir persönlich sehr wichtig ist und die ich gezielt voranbringe. Der Fachkräftemangel ist eine große Herausforderung: Bei Stellenausschreibungen spüren wir das zunehmend. Wichtiges und ebenfalls herausforderndes Thema bleiben die „Finanzen“. Man spürt, dass der Ton da rauer wird.

Was motiviert Sie bei Ihrer fordernden Arbeit als Geschäftsführerin der Diakonie? Was verbindet Ihren Beruf mit Ihrer Biografie?

Die Diakonie ist meine berufliche Heimat. Seit 34 Jahren arbeite ich im diakonischen Kontext; seit 20 Jahren bin ich beim Diakonischen Werk in Mülheim beschäftigt; am 1. Januar 2021 habe ich die alleinige Geschäftsführung übernommen. Ich möchte auch weiterhin immer im Zusammenspiel mit den Kolleginnen agieren. Mir ist der Kontakt zu den Mitarbeitenden wichtig, um zu spüren: Wie geht es an der Basis, was brauchen die Menschen, um daraus unsere Angebote zu entwickeln. Das gilt in der aktuellen Zeit mehr denn je. Die Corona-Pandemie hat allen viel abverlangt – auch unseren Mitarbeitenden, denn wir haben unsere Angebote ab März 2020 vorgehalten. Wir spüren, dass die Menschen nun mit anderem Ballast kommen. Und das wird in den nächsten Monaten noch mehr werden. Mit Blick darauf möchte ich – im Zusammenspiel mit den Abteilungen – Hilfsangebote entwickeln.

„Pandemie hat allen viel abverlangt“

Was würde der Stadt fehlen, wenn es keine Diakonie in Mülheim gäbe?

Die Diakonie berührt die Leben der Mülheimerinnen an unterschiedlichen Stellen. Ein Wegfall würde im Alltag viele große Lücken hinterlassen. Ich möchte Beispiele nennen: Da sind etwa die Schulprojekte, in denen wir als Träger an Grund- und weiterführenden Schulen 1.800 Schülerinnen betreuen. Bereits im Schuljahr 2004/2005 haben wir in Styrum eine OGS in Kooperation mit Stadt und Schule aufgebaut. Seitdem begleiten wir Bildungsbiografien, entlasten Familien und vor allem Mütter. Zugleich ist dies ein Beispiel für unsere Stadtteilarbeit: Denn in Styrum sind wir schon lange aktiv, haben mit dem Sozialbüro an der Augustastraße eine Anlaufstelle im Stadtteil, bieten dort auch eine Kindergruppe bis in den Abend hinein an. Außerdem lernen in unserer Integrationsfachschule über 400 Menschen Deutsch in zielgruppenorientierten Kursen; wir unterstützen diese Menschen ganz konkret dabei, sich eine Zukunft in Deutschland aufzubauen, damit Integration gelingen kann. Unsere Obdachlosenhilfe und Suchtberatungs- und Behandlungsstelle haben ihre Angebote über Jahrzehnte ausdifferenziert. Wie gesagt, das sind nur einige Beispiele.

Was würden Sie politisch gerne durchsetzen?

Durchsetzen hört sich für mich nach „Kopf durch die Wand an“. So verstehen wir unsere Arbeit nicht. Mein Ziel ist es, die Angebote des Diakonischen Werkes bedarfsgerecht fortzuschreiben. Neues zu wagen, Bewährtes fortzusetzen. Was ich mir von Politik wünsche ist, dass wir weniger in Projektanträgen denken müssen, sondern eher unsere Angebote in einem Gesamtkonzept entwickeln können. Also weniger Projekteritis, dafür mehr Zuschüsse mit klaren und bedarfsgerechten Vereinbarungen zur Durchführung der Arbeit.

„Mitarbeitende sind das Herz der Diakonie“

Was wünschen Sie der Diakonie zum Geburtstag?

Ich wünsche dem Diakonischen Werk weiterhin so gute Mitarbeitende. Denn sie sind das Herz der Diakonie – sie sind die, die tagtäglich die Arbeit am Menschen durchführen – dazu gehören unsere Mitarbeitenden in den Schulprojekten genauso wie die Verwaltungsmitarbeiterin in der Evangelischen Schwangerschaftsberatungsstelle oder die Therapeuten in der Sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Weiterhin wünsche ich der Diakonie, dass die Zusammenarbeit mit Politik und Verwaltung weiterhin so gut läuft wie bisher. Dazu gehört auch die kritische Auseinandersetzung – aber dies immer im Sinne der von uns betreuten Menschen. Innerkirchlich wünsche ich mir die Fortsetzung der immer guten Zusammenarbeit mit unseren Kirchengemeinden, dem Evangelischen Kirchenkreis und den Einrichtungen und Diensten der evangelischen Kirche.

Hartwig Kistner war jahrelang der Geschäftsführer der Diakonie in Mülheim. 
Hartwig Kistner war jahrelang der Geschäftsführer der Diakonie in Mülheim.  © Diakonisches Werk Mülheim

Info: Zur Geschichte des Diakonischen Werkes

Das Diakonische Werk trägt das altgriechische Wort für „Dienst“ in seinem Namen. Dem Beschluss der Kreissynode folgend wurde vor 100 Jahren ein evangelisches Jugend Fürsorgeamt gegründet, das von einem Jugendrat geleitet wurde, an dessen Spitze der Dümptener Pfarrer Müller stand.

Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte auch Mülheim soziale, wirtschaftliche und politische Umbrüche, von denen vor allem Jugendliche gefährdet waren. Vor diesem Hintergrund hatten sich in Mülheim 1919 auch die SPD-nahe Arbeiterwohlfahrt und 1920 die katholische Caritas gegründet.

Beschäftigungsförderung wurde Aufgabe

Nach Pfarrer Müller waren Pastor Walter Sänger, Heinz Lipski und Hartwig Kistner als Vorgänger von Birgit Hirsch-Palepu leitende und prägende Persönlichkeiten der Diakonie, aus der 1985 auch das im Bereich der Beschäftigungsförderung aktive Diakoniewerk Arbeit und Kultur sowie der 1965 gegründete Evangelische Betreuungsverein für Erwachsenenbetreuung hervorgegangen sind.

Darüber hinaus engagiert sich die in sieben Abteilungen organisierte Diakonie auch in der Betreuung von Schwangeren, Schülern, Suchtkranken, Flüchtlingen und Menschen, die von Obdachlosigkeit bedroht und betroffen sind.

Weiterführende Informationen zum Thema findet man unter: www.diakonie-muelheim.de