Mülheim. „Ich bin nicht kaputt zu kriegen“, sagt die Mülheimerin Johanna Liebscher. Die Hundertjährige hat viele schöne wie schmerzhafte Erinnerungen.

Wer den Zweiten Weltkrieg erleben musste, überlebt hat, wird manche Erinnerung nie wieder los. Johanna Liebscher denkt zurück und sagt: „Ich war sogar verschüttet.“ Sie lag nach einem Bombenangriff unter den Trümmern des Johanniter Krankenhauses in Oberhausen-Sterkrade, wo sie damals arbeitete. Männer hätten drei Stunden gebraucht, um sie zu befreien, und sie hätten gesagt: „Wenn wir sie rausholen, dann hat sie keinen Knochen mehr heil.“

Doch die junge Frau blieb nahezu unverletzt. Fünf Minuten später habe sie wieder gearbeitet, und die Männer hätten es kaum glauben können: „Die ist nicht kaputt zu kriegen.“ So jedenfalls die Erinnerung von Johanna Liebscher, geborene Waldhoff. Und das sagt sie auch über sich selber: „Ich bin nicht kaputt zu kriegen“. Am heutigen Montag, 5. Juni, feiert die Mülheimerin ihren 100. Geburtstag im Kreise von Familie und Freunden.

Mülheimerin wurde aus Kriegstrümmern fast unverletzt gerettet

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Dass sie aus Trümmern gerettet wurde, liegt jetzt etwa acht Jahrzehnte zurück. Johanna Liebscher trägt hochgekrempelte Jeans, Turnschuhe und am schmalen Handgelenk eine schicke, rotgoldene Uhr. Deren Batterien werden immer wieder altersschwach, und dann läuft die Mülheimerin zu Fuß von der Kolumbusstraße, wo sie wohnt, zum Karstadt-Warenhaus im Rhein-Ruhr-Zentrum, um eine neue einlegen zu lassen. Bis vor Kurzem ist sie auch mit dem Familienhund noch spazieren gegangen, mit Frieda, die leider vor vier Wochen starb, vielleicht an einem Gehirntumor.

Johanna Liebscher ist dadurch nicht alleine, sie lebt auf der Heimaterde in einem hübschen Drei-Generationen-Haus mit ihrem Sohn Peter (57), Schwiegertochter Kirsten (56), Enkelin Anna (16), zwei weißen Katzen. Sie hat ihre eigene Wohnung unter dem Dach, steigt die Treppe alleine, kann noch selbstständig duschen und ihr Essen zubereiten. Eine Geschichte erzählt die Schwiegertochter amüsiert: Vor vier, fünf Jahren habe „die Oma“ in der Mülheimer Augenklinik ihren Grauen Star erfolgreich operieren lassen. „Danach hatte sie Brillen abzugeben.“

„Oma ist eine Leseratte“ - Hundertjährige braucht keine Brille mehr

Das Lesen klappt seitdem wieder ohne Gläser. Und die Hundertjährige liebt es: historische Romane, Familiengeschichten… „Oma ist eine Leseratte“, sagt Kirsten Liebscher, „manchmal hat sie in ein, zwei Tagen ein ganzes Buch verschlungen“. Regelmäßig sei sie daher Gast in der Stadtteilbücherei Heißen, um für die Seniorin neue Lektüre auszuleihen.

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Geboren wurde Johanna Liebscher am 5. Juni 1923 in Oberhausen-Sterkrade, als Bergmannskind mit einem jüngeren Bruder und zwei Halbgeschwistern. „Wir waren arme Leute.“ Der Vater habe früh nicht mehr arbeiten können, krankheitsbedingt. Johanna erinnert sich, dass sie als Mädchen gerne die kleinen Nachbarskinder im Wagen herumfuhr. „Ich wollte wenigstens drei Kinder haben. Ich war kinderbesessen.“ Doch auf ihr eigenes, einziges, musste sie lange warten. Mutter wurde sie erst als 43-Jährige.

Zwei Mal verwitwet, einziges Kind kam 1966 zur Welt

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Ihr erster Ehemann sei krank aus dem Krieg heimgekommen, er habe „aus Russland eine Viruserkrankung mitgebracht“ und seine Frau angesteckt. Aus diesem Grund hätten sie keine gemeinsamen Kinder bekommen können. Nach seinem Tod heiratete Johanna Liebscher erneut, wurde Mutter, arbeitete weiterhin als Reinigungskraft im Krankenhaus. Eine Berufsausbildung hat sie nicht. Längst ist sie erneut verwitwet. Mit ihrem zweiten Mann lebte sie zuletzt, bis zu dessen Krebstod, in Mengen, Baden-Württemberg. Im Jahr 2005 holten Sohn und Schwiegertochter sie zu sich ins Ruhrgebiet.

Seit Ende 2006 lebt die Familie auf der Heimaterde, in einem aufwändig sanierten Haus mit Garten und kleinem Pool. „Die Oma hat noch mit 83 Jahren in der ersten Etage gestanden und Tapeten von den Wänden gekratzt.“ Johanna Liebscher war früher gerne in Österreich. „Ich bin immer viel in den Bergen herumgeklettert, viel gelaufen.“ Später auch mit dem Hund, mit der Enkelin im Kinderwagen. „Ich war immer in Bewegung.“ Sie ist es bis heute.