Mülheim. Kommt es zum Pflegenotstand? Mülheimer Pflegedirektoren schildern, wie die Lage an den hiesigen Kliniken ist und ob’s genug Pflegepersonal gibt.
Das Schreckgespenst vom Pflegenotstand geht um: Wer versorgt uns in Zukunft, wenn sich niemand mehr in der Pflege ausbilden lassen will, wenn examinierte Kräfte abwandern, weil sie die Belastung nicht mehr aushalten? Die Mülheimer Krankenhäuser haben ihre eigenen Strategien, um diesem Szenario vorzubeugen.
Null – diese überraschende Zahl hält die aktuelle Statistik der Mülheimer Arbeitsagentur in der Spalte „Freie Stellen in Krankenhäusern“ bereit. Von den 88 gemeldeten Arbeitsstellen im Gesundheitswesen im April 2023 befand sich demnach keine einzige in den beiden hiesigen Hospitälern. Auch im März lagen der Arbeitsagentur keine freien Stellen in den Kliniken vor, in den Monaten davor bis in den November 2022 hinein zählte man in der Agentur monatlich zehn Vakanzen, vor genau einem Jahr waren es 21.
Laut Verdi fehlen NRW-weit in Kliniken rund 20.000 Fachkräfte – und in Mülheim?
Wie erklärt es sich, dass Mülheims Krankenhäuser derzeit augenscheinlich keinen Bedarf an Arbeitskräften haben, wo doch allerorten vom Fachkräftemangel und Pflegenotstand die Rede ist? Allein in NRW fehlen Erhebungen der Gewerkschaft Verdi zufolge rund 20.000 Fachkräfte in den Krankenhäusern.
Ausbildung und flexible Arbeitsmodelle scheinen die Stellschrauben zu sein, mit denen sich die beiden Mülheimer Kliniken in eine recht komfortable Situation gebracht haben. Beide sehen sich derzeit gut aufgestellt und sind zufrieden mit dem Nachwuchs.
Evangelisches Krankenhaus in Mülheim: „Wir bewerben uns bei den Bewerbern“
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„Wir bewerben uns bei den Bewerbern“, sagt Roland Ebbing, Pflegedirektor am Evangelischen Krankenhaus Mülheim (EKM) und nutzt den Satz nicht als hohle Phrase. „Ich greife selbst zum Telefon und lade die Bewerber auf einen Kaffee ein – das macht nicht die Sekretärin, indem sie eine Mail schreibt.“ Das Persönliche ist Ebbing wichtig – nur wer auf diesem Weg auslote, ob es passt, stelle am Ende beide Seiten zufrieden, meint er.
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Bewerber, die das Haus stets willkommen heiße, auch wenn derzeit keine großen Lücken im Personaltableau klafften, bittet der Pflegedirektor zudem, auf den Stationen zu hospitieren. Ebbings Rat dann: „Fragen Sie die Kollegen vor Ort, wie’s ist.“ Angst vor den Antworten hat Ebbing nicht, im Gegenteil: Er ist überzeugt, dass sich die Mitarbeitenden in der Pflege wohlfühlen und fürs EKM als Arbeitgeber werben.
Bis dahin aber habe man gemeinsam einiges umgekrempelt, um das Wort „mitarbeiterorientiert“ mit Leben zu füllen. Heute begegne man sich auf Augenhöhe, jeder Mitarbeitende solle das Gefühl haben, ein Teil des Ganzen zu sein und mit seinen Bedürfnissen ernst genommen zu werden. So gelinge es, Arbeitskräfte – wie etwa auch die derzeit rund 50 Auszubildenden – ans Haus zu binden. Dazu gehörten auch flexiblere Arbeitszeitmodelle: „Wer Kinder hat, bekommt passende Arbeitszeiten“, da ist Ebbing pragmatisch.
Wer am Mülheimer EKM einspringt, bekommt eine Prämie oder Freizeitausgleich
Ohne ein Entgegenkommen wie dieses gewinne man heute kein engagiertes Personal, ist der Pflegedirektor überzeugt: „Wir haben hier im Umkreis mit den anderen Städten zig Kliniken, da können sich die Bewerber ihren Job aussuchen.“ Um den Weggang von Pflegekräften zu vermeiden, belohnt das EKM es etwa, wenn jemand bei Lücken im Dienstplan einspringt – mit 40 Euro oder Freizeitausgleich. Zudem sind rund 30 Mitarbeitende aus dem Springerpool einsetzbar, wenn personelle Ausfälle drohen.
Auf Leihkräfte zurückzugreifen, ist für das Evangelische Krankenhaus keine Option mehr. Zu viel Unruhe brachten die häufigen Wechsel sowie die unterschiedliche, zumeist bessere Bezahlung der Leiharbeiter in die Teams. „Heute kommen wir ganz ohne Leihpersonal aus. Stattdessen haben wir unseren festen Mitarbeiterstamm aufgestockt“, zählt Ebbing einen weiteren Erfolg auf. Waren am EKM 2017 noch 295 Vollzeitkräfte und 40 Leiharbeiter beschäftigt, zählt das Krankenhaus heute 360 Kräfte, ausschließlich eigene, festangestellte Mitarbeitende. Der Pflegeberuf sei heute, wirbt Ebbing um weiteren Nachwuchs, der bestbezahlte Ausbildungsberuf Deutschlands.
Schüler erkunden Pflegeausbildung beim Aktionstag am St. Marien-Hospital
Was man alles lernt, wenn man die Ausbildung zur Pflegefachfrau oder zum Pflegefachmann macht, darüber verschafften sich am Freitag, dem internationalen Tag der Pflegenden, rund 180 Schülerinnen und Schüler der weiterführenden Schulen einen Überblick beim Aktionstag am St. Marien-Hospital (SMH). Jana Gusella und Katharina Gläske sind zwei der derzeit 176 Auszubildenden am katholischen Krankenhaus und stehen den neugierigen jungen Besuchern Rede und Antwort.
Warum sie sich für diesen Beruf entschieden habe, soll Katharina erzählen. Sie habe geholfen, ihren Opa zu pflegen – von da an habe sie gewusst, dass sie ins Krankenhaus wolle, gewährt die 21-Jährige Einblicke in ihre Berufswahl: „Ich möchte nah dran sein und Menschen helfen.“ Und Jana, die zunächst nur einen Nebenjob im Krankenhaus hatte, um ihr Studium zu finanzieren, hat die Archäologie schließlich gegen die Pflege getauscht. Heute sagt die 26-Jährige: „Ich habe gemerkt, dass die Arbeit mit den Menschen mir viel mehr Spaß macht.“
Katholisches Krankenhaus in Mülheim will schon die Jüngsten für die Pflege begeistern
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Die 14-jährige Sofie ist an diesem Tag eine der jungen Besucherinnen. Ihr Einsatz ist gefordert an der Wiederbelebungspuppe. Intensiv macht sie eine Minute lang Herzdruckmassage und steht danach erschöpft auf. Der Pfleger bescheinigt ihr: „Dieser Patient hätte auf jeden Fall überlebt.“ Sofie fühlt sich bestärkt in ihrem Wunsch, den Beruf zu ergreifen, der früher Krankenschwester hieß. Die 14-Jährige weiß genau, warum: „Da macht man was Sinnvolles.“ Wenn Maik Stanzcyk solche Szenen beobachtet, fühlt sich der Pflegedirektor des St. Marien-Hospitals in seinem Ansatz bestätigt, schon bei den Jüngsten anzusetzen, um sie fürs Krankenhaus zu begeistern. Teils geht er mit seinem Team schon in Kitas, um neugierig zu machen auf die Pflege.
Wer sich fürs SMH als Ausbildungsstelle entscheide, werde engmaschig begleitet, schildert Stanzcyk, man finde immer ein offenes Ohr. Geht es aufs Ende der Ausbildung zu, werden gemeinsam die nächsten Karriereschritte geplant, denn die Pflege, wirbt Stanczyk, sei ein besonders vielfältiges Arbeitsfeld: „Wenn sich der Mitarbeiter Ziele setzt, dient das nicht nur ihm selbst, sondern auch dem Haus.“ Nicht nur darüber gelinge es, selbst ausgebildeten Nachwuchs ans Haus zu binden.
Mütter können am Mülheimer SMH in der Woche anders arbeiten als am Wochenende
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Auch bereits examinierte Mitarbeitende – im Pflege- und Funktionsdienst arbeiten aktuell 345 Vollzeitkräfte am St. Marien-Hospital – will das katholische Krankenhaus nicht verlieren und bietet neben Weiterbildungen flexible Arbeitszeiten an. „Mütter können in der Woche anders arbeiten als am Wochenende, darauf gehen wir ein“, sagt der Pflegedirektor. Ein Springerpool, der für alle Häuser des Trägers Contilia bereitsteht, füllt Lücken im Dienstplan. Auf Leiharbeiter könne man so komplett verzichten, betont Stanzcyk.
Ihren Platz im SMH bereits gefunden hat Carina Graap. Die 33-Jährige ist Stationsleiterin und geht jeden Tag gerne zur Arbeit, wie sie sagt, denn: „Ich wollte immer in einem Team arbeiten, das ohne Bauchschmerzen zur Arbeit kommt. Das ist mein eigener Anspruch an den Job. Und wenn wir uns wohlfühlen, überträgt sich das auch auf die Patienten.“