Mülheim. Der Virchowbund ruft niedergelassene Ärzte zur Vier-Tage-Woche auf. Was steckt dahinter, und wie realistisch ist die Maßnahme in Mülheim?
„Praxen sollen mittwochs schließen“, lautet der so einfache wie radikale Vorschlag von Dirk Heinrich, dem Bundesvorsitzenden des Virchowbunds. Der Berufsverband niedergelassener Ärzte in Deutschland hat jüngst mit diesem Aufruf zur Vier-Tage-Woche für Diskussionen gesorgt.
In der Pressemitteilung bringt Heinrich eine ganze Reihe von Gründen für die Maßnahme vor: gestiegene Kosten, Personalmangel, überhandnehmende Bürokratie und Fortbildungsbedarf, das budgetierte Finanzierungssystem, zu viel Stress. Wir haben mit Uwe Brock, Internist mit Praxis in Mülheim und Vorsitzender der Mülheimer Kreisstelle der Ärztekammer Nordrhein, gesprochen. Von ihm wollten wir wissen, was an den angeführten Problemen dran ist, und ob eine Vier-Tage-Woche hilfreich zu deren Beseitigung sei.
Schließen Mülheimer Arztpraxen künftig an einem Tag pro Woche?
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Als erstes haben wir Uwe Brock aber gefragt, ob Patientinnen und Patienten in Mülheim befürchten müssen, mittwochs bald vor verschlossenen Türen zu stehen? „Eher nicht“, sagt Brock. „Das wird jede Praxis für sich entscheiden.“ Der Mediziner mit 25 Jahren Berufserfahrung als Facharzt geht nicht davon aus, dass Heinrichs Vorschlag für Patienten große Auswirkungen haben wird - eine Einschätzung, die auch Dr. Stephan von Lackum, Hausarzt in Speldorf und Geschäftsführer der Kreisstelle Mülheim der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, auf Nachfrage bestätigt.
Die Problemdiagnose des Kollegen vom Virchowbund treffe zwar weitgehend zu, so Brock, die Therapie mit einer Vier-Tage-Woche hält er hingegen nicht für praktikabel, aus mehreren Gründen.
Die Argumente des Virchowbunds für eine Vier-Tage-Woche in der Kritik
Zur Attraktivitätssteigerung des Berufs der Medizinischen Fachangestellten – Heinrich schwebt ein voller Lohnausgleich bei verkürzter Wochenarbeitszeit vor – könne sich die Maßnahme zwar „theoretisch eignen“, so Brock. Niedergelassene Ärzte litten stark unter Personalmangel. Das eigentliche Problem sei aber die Versorgungslage. Durch weniger Behandlungstage werde die Zahl der Patienten nicht kleiner: „Die kommen dann stattdessen entweder vorher oder nachher.“
Zum Erledigen von Papierkram habe auch Brock schon einmal die Praxis zugesperrt: „Allerdings einmalig, bei Bedarf, wenn sich viel angestaut hat, was man eigentlich nicht nebenher erledigen kann.“ Dauerhaft könne das keine Lösung sein – wenn man denn weiterhin die gewohnten Leistungen erbringen will.
Dagegen heißt es vom Virchowbund: „Für uns ist deshalb klar: Leistungen, die nicht bezahlt werden, können auch nicht erbracht werden – deshalb müssen wir unsere Leistungen einschränken.“ Das kontrovers diskutierte Finanzierungssystem der Budgetierung könne zwar vor allem für Fachärzte tatsächlich zu Problemen führen, bestätigt Brock; zugleich fände das System seit vielen Jahren Anwendung und habe eine gewisse Berechtigung. Oder grundsätzlicher: „Das Gesundheitssystem muss in finanziellen Grenzen gehalten werden.“ Der Internist sah sich bislang nicht dazu veranlasst, einen ganzen Tag für die Patienten zu streichen, weil er befürchten musste, andernfalls sein Budget für bestimmte Behandlungen von gesetzlich versicherten Patienten zu überziehen.
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Handlungsbedarf sieht indes auch Brock, der trotzdem nicht zum Mittel einer Vier-Tage-Woche greifen will. Die Belastung der Kolleginnen und Kollegen habe in den vergangenen Corona-Jahren noch einmal drastisch zugenommen. „Die letzten Jahre bedeuteten eine lang andauernde, echte Belastung und sehr viel Stress. Immer wieder Infekte, immer wieder Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Erst vor Weihnachten, wenige Monate ist das her, da hatten wir montags noch über 100 Krankschreibungen zu bearbeiten.“
Für eine langfristige Verbesserung der Arbeitssituation der niedergelassenen Ärzte müsste sich zuerst an der Versorgungslage etwas ändern, gibt Brock zu bedenken. Wenn auf jede Praxis weniger Patienten kämen, könnten fast alle vom Virchowbund aufgezählten Probleme sofort behoben werden; der Anlass für eine Vier-Tage-Woche wäre nicht mehr gegeben. „Leider fehlt es an Nachwuchs, vor allem fehlen Hausärzte.“ Hier, bei der Bereitstellung von Studienplätzen und der Ausbildung von Nachwuchsmedizinern, sieht Brock daher am dringlichsten Handlungsbedarf.
Seine Praxis und, wie er vermutet, die allermeisten seiner Kolleginnen und Kollegen werden deswegen auch in Zukunft wie gewohnt öffnen.