Mülheim. In Mülheimer Apotheken sind Hunderte Arzneimittel nicht lieferbar. Eltern fahren zum Medikamenten-Shopping nach Holland. Was hilft?

Viele Infekte, wenige verfügbare Medikamente: So sind Mülheimer Familien in den Winter gegangen. Insbesondere fiebersenkende Mittel für Kinder sind knapp und Antibiotika, ebenso betroffen: Präparate gegen Diabetes oder Bluthochdruck. Besserung ist nicht in Sicht. Wie auch?, fragen sich Mülheimer Apotheker und fordern eine Kehrtwende.

Der auch für Mülheim zuständige Apothekerverband Nordrhein hat in dieser Woche eine Blitzumfrage veröffentlicht, an der sich etwa ein Viertel der Mitgliedsapotheken an Rhein und Ruhr beteiligt haben. Danach ist mittlerweile fast jedes zweite Rezept von Lieferengpässen betroffen. Die Apotheken hätten dadurch große Umsatzverluste und erhebliche Mehrarbeit, die nicht honoriert werde, klagt der Verband. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) führt eine Liste gemeldeter Lieferengpässe. Aktuell sind dort mehr als 430 verschreibungspflichtige Medikamente aufgeführt.

In Mülheimer Apotheken fehlen weiterhin viele Medikamente

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Jessica Küpper-Schmid, Inhaberin der Apotheke auf der Saarner Kuppe, hatte die Situation im Dezember „schockierend“ genannt. Seitdem sei die Versorgungslage nicht besser geworden – „im Gegenteil“, immer mehr Medikamente seien betroffen. Fiebersäfte für Kinder kämen nur selten und „kleckerweise“ in den Handel, auch verschiedene Antibiotika seien schon lange nicht mehr lieferbar, so die Apothekerin. Fehlanzeige etwa auch bei Pantoprazol, einem Magenmittel: „Es fehlen die einfachsten Dinge. Jetzt wird es gerade bei einigen Blutdruckmedikamenten eng.“

Auch die Pelikan Vital Apotheke im Forum kann längst nicht jedes Rezept bedienen. Speziell bei Kinderarzneimitteln herrsche „völlige Ebbe“, sagt Inhaber Patrick Witte. Im Dezember und Januar, als Viruserkrankungen grassierten, habe es einen riesigen Bedarf gegeben, bei extremem Mangel. Den Kinderarztpraxen sei das Problem bewusst. Aufgeschlossene Ärztinnen und Ärzte stellten auch schon Rezepte aus, auf denen Rezepturen stehen, keine Fertigprodukte. So habe er in seiner Apotheke bereits Paracetamolsaft selber hergestellt oder Fieberzäpfchen für Babys gegossen. „Teilweise waren aber auch hier notwendige Zusatzstoffe nicht zu bekommen, so dass wir Ausweichstoffe verwenden mussten“, so Patrick Witte.

Aussetzung der Festbeträge „ein Signal in die richtige Richtung“

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Als Gegenmittel hat der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen entschieden, die Festpreise für bestimmte Produkte ab 1. Februar auszusetzen, zunächst für drei Monate. Dies soll für insgesamt 180 Fertigmedikamente gelten, etwa Arzneimittel mit Ibuprofen oder Paracetamol sowie Antibiotika. Für diese Medikamente können die Kassen den Herstellern dann mehr zahlen. Doch selbst die Pharmaindustrie sieht die Maßnahme skeptisch: So kurzfristig könne man den Mangel nicht ausgleichen.

Der Sprecher der Mülheimer Apotheker, Peter Lamberti, nennt die Aussetzung der Festbeträge bis Ende April „ein Signal in die richtige Richtung“. Doch wenn man pharmazeutische Produktion wieder in Deutschland und Europa ansiedeln wolle, müsse politisch agiert, langfristig umgestaltet werden. „Dafür brauchen wir einen längeren Zeitraum als drei Monate.“ In seinem Geschäft, der Phönix-Apotheke in Styrum, seien schätzungsweise rund 400 Artikel, die sie sonst da haben, nicht verfügbar, sagt Lamberti. „Gerade Medikamente für Chroniker fehlen, und bei bestimmten Antibiotika wäre es auch schön, wenn wir sie mal wieder hätten.“

Mülheimer Apotheker kritisiert Geiz-ist-geil-Mentalität

Patrick Witte von der Apotheke im Forum findet die Maßnahme sinnvoll, um Hemmschwellen abzubauen. Sie müsste aber langfristig und viel breiter angelegt sein, findet er. „Die Festbeträge müssen fallen. Dieses System ist längst überholt und gerade bei Kindermedikamenten völlig lächerlich. Die Pharmaindustrie zeigt uns doch einen Vogel.“

Der Apotheker kritisiert die Geiz-ist-geil-Mentalität, die auch in diesem sensiblen Bereich dominiere. Nach seiner Ansicht müssten Medikamente sehr viel teurer werden, um unabhängig zu werden von der Billigproduktion in China. „Und man müsste bereit sein, die Krankenversicherungsbeiträge deutlich zu erhöhen, um das zu finanzieren. Das ist ein echtes Politikum. Man kann nur hoffen, dass jetzt endlich mal der Groschen fällt.“

Saarner Apothekerin: „Wo nichts ist, kann man nichts holen“

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Ob es hilft, die Festbeträge für drei Monate auszusetzen, erscheint auch der Saarner Apothekerin Jessica Küpper-Schmid fraglich. Die Engpässe seien zu weitreichend, die Maßnahme zu kurz angelegt. „Wo nichts ist, kann man nichts holen.“ Immerhin sei sie vorläufig die Sorge los, Packungen ohne Rabattvertrag nicht erstattet zu bekommen. „Aber es bringt nichts, wenn man gar nichts hat. Auch kein teureres Präparat.“ Die Lockerung müsste dauerhaft sein, gerade bei Kinderarzneimitteln, meint die Saarner Apothekerin.

Die Engpässe erscheinen ihr nicht als europaweites Problem, so Jessica Küpper-Schmid. „Ich war in den Weihnachtsferien in Österreich. Da gab es alles. Kita-Eltern fahren mit langen Einkaufslisten nach Holland und kaufen dort Medikamente ein.“ Das hat ihr Kollege Patrick Witte auch schon mitbekommen, doch auf dem Höhepunkt der winterlichen Infektionswelle seien in holländischen Geschäften Ausweise kontrolliert worden. Dann war dort auch nichts zu holen.