Mülheim. Die Infektionswelle bringt Mülheimer Kinderarztpraxen an Grenzen. Doch es gibt keine Aufnahmestopps. Hier wird Familien im Ernstfall geholfen.
Aus den Kinderkliniken und Kinderarztpraxen kommen dieser Tage laute Hilferufe: Die Infektionswelle trifft nicht nur zahlreiche Kinder, sondern auch medizinisches Personal. „Wir sind am Limit!“, meldete der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Die Situation der Kinderkliniken und Praxen sei „dramatisch“.
Die Mülheimer Kinderärzte können das nur unterschreiben: „Der Andrang ist kaum noch zu bewältigen“, bestätigt Dr. Olaf Kaiser, Obmann für Mülheim im BVKJ. „Es wird den Eltern viel Wartezeit abverlangt.“ Durch Personalausfälle kämen die Praxen auch organisatorisch an ihre Grenzen. Zahlreiche Fälle von RSV-Infektionen sehe man, ebenso Grippe und langanhaltendes Fieber. „Wir arbeiten alle auf Hochtouren, um die Kinder gut zu versorgen“, sagt der Pädiater, auch im Namen seiner Mülheimer Kolleginnen und Kollegen. Immerhin hätten die Praxen noch keine Aufnahmestopps, und Neugeborene könnten Vorsorgetermine bei rechtzeitiger Anmeldung weiterhin erhalten.
Kinderarzt-Praxen decken Mülheimer Stadtgebiet ab: „Keine Lücken“
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Sieben kinder- und jugendärztliche Praxen gibt es in Mülheim, die meisten schon seit langen Jahren. Insgesamt 15 Ärztinnen und Ärzte arbeiten dort, jedoch nicht alle durchgehend und in Vollzeit. Die Versorgungslage sei grundsätzlich ausreichend, meint Dr. Olaf Kaiser. „Es gibt genügend kinderärztliche Praxen, die jedes Gebiet in der Stadt abdecken. Wir haben da keine Lücken.“
Bei der Bedarfsplanung werde die gesamte Stadt Mülheim als ein Versorgungsbezirk betrachtet, heißt es vonseiten der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Nordrhein. „Es wird also nicht stadtteilbezogen geplant.“ Ein auffälliges Gefälle in der ambulanten kinderärztlichen Versorgung sei mit Blick auf das Mülheimer Stadtgebiet jedoch nicht zu erkennen.
Laut KV sind in Mülheim derzeit zwölf kinderärztliche Zulassungen durch Pädiater besetzt, aber mehr als zwölf Ärzte im Einsatz. Ein KV-Sprecher erläutert: „Es gibt offenbar mehrere Praxen, in denen sich zum Beispiel zwei Pädiater eine Zulassung teilen (50:50). Die Aufteilung einer vertragsärztlichen Zulassung auf mehrere Ärzte (Köpfe) ist rechtlich möglich, was unter anderem Halbtagsbeschäftigungen erlaubt.“
Sieben kinder- und jugendärztliche Praxen gibt es in Mülheim
Acht Ärztinnen und Ärzte in Mülheim haben sich zu Kids 4.0 zusammengeschlossen, einer ortsübergreifenden Gemeinschaftspraxis mit gemeinsamer Website (www.kids40.de) und vier Standorten.
Im Stadtteil Speldorf: Dr. Olaf Kaiser, Saarner Straße 419, 0208/33215, Mail: speldorf@kids40.de.
In Dümpten: Dr. Thomas Lamberti und Dr. Martin Knorr, Mellinghofer Straße 256, 0208/70015, duempten@kids40.de.
In Heißen: Dr. Claudia Plass, Jutta Nehles, Dr. Danai Savidou, Hingbergstraße 241, 0208/436588, heissen@kids40.de.
In Saarn: Dr. Martin Figura und Dr. Sven Hower, Kölner Straße 14, 0208/488686, saarn@kids40.de.
Daneben gibt es drei weitere Praxen.
In Styrum: Dr. Holger van der Gaag, Dr. Andreas Weckelmann und Dr. Corinna Buron, Oberhausener Straße 184a, 0208/402085.
In Speldorf: Dr. Oleg Tartakowski, Dr. Katalin Varga, Lindenstraße 67, 0208/598090, www.medicus-uhlenhorst.de.
In der Stadtmitte: Dr. Ulrike Breckling und Elke Jacobs, Delle 46, 0208/445065, www.dr-breckling.de.
Wie gut ist die kinderärztliche Versorgung in Mülheim im überregionalen Vergleich?
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Auf den ersten Blick ganz passabel. Laut Daten der KV Nordrhein (Stand: 5. April 2022) leben in Mülheim 28.087 Menschen unter 18 Jahre – das sind die potenziellen Patientinnen und Patienten der Pädiater. Den fachärztlichen Versorgungsgrad im Bereich der Kinder- und Jugendärzte in Mülheim beziffert die KV auf 124,2. Niederlassungsmöglichkeiten: null. Zum Vergleich: In Essen liegt der Versorgungsgrad danach bei 119,8, in Duisburg bei 109,5 und in Oberhausen bei 117,1.
Und doch haben die einzelnen Ärztinnen und Ärzte in Mülheim offenbar überdurchschnittlich viel zu tun, wenn man die tatsächlichen Behandlungsfälle betrachtet. Im zweiten Quartal 2022 entfielen hier im Schnitt auf jede Ärztin, jeden Arzt 1427 Behandlungsfälle, während es im gesamten Bereich der KV Nordrhein lediglich 1059 Fälle waren. Die Mülheimer Praxen mussten also zumindest in jenem Zeitraum deutlich mehr Kinder versorgen – neuere Zahlen liegen noch nicht vor.
Kinderärztlicher Notdienst für Mülheim nur noch in Oberhausen
Außerhalb der Praxisöffnungszeiten müssen Mülheimer Familien fahren: Seit Juli 2019 gibt es hier in der Stadt keinen kinderärztlichen Notdienst mehr. Zentrale Anlaufstelle ist nun die KV-Notdienstpraxis für Kinder und Jugendliche am Evangelischen Krankenhaus in Oberhausen (EKO), Virchowstraße 20, Haus C, 3. Etage. Öffnungszeiten sind: montags, dienstags, donnerstags von 19 bis 21 Uhr, mittwochs und freitags von 16 bis 20 Uhr, samstags, sonntags, feiertags von 10 bis 14 Uhr und 16 bis 20 Uhr. Um telefonische Anmeldung unter 0208 881-1308 wird gebeten.
Im Wechsel mit den Oberhausener Kolleginnen und Kollegen übernehmen auch die Mülheimer Pädiater Notdienste am EKO. Anfangs hatten sie sich juristisch gegen die Verlegung des Notdienstes gewehrt, der ihrer Ansicht nach zu weite Wege und generell eine schlechtere Versorgung für Mülheimer Familien mit sich bringe – sie scheiterten jedoch vor dem Sozialgericht. Perspektivisch soll am EKO, das auch über eine Kinderklinik mit Kindernotaufnahme verfügt, eine moderne Portalpraxis entstehen. Dort gäbe es dann einen gemeinsamen Tresen von niedergelassenen Pädiatern und Klinikärzten, um jeden Notfall adäquat einzuordnen und zu behandeln.
Umbau zur modernen Portalpraxis am EKO dauert bis 2025
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Bis es jedoch so weit ist, werden noch Jahre vergehen, und das kritisieren die Mülheimer Kinderärzte. Dr. Olaf Kaiser, Obmann im Berufsverband, sagt, prinzipiell habe sich der Notdienst am EKO inzwischen eingespielt, doch nicht auf dem gewünschten Level. Langfristig erhoffe man sich eine gute Versorgung, „wenn das Modell Portalpraxis einmal funktioniert, wenn wirklich vorne am Tresen triagiert wird und die Kinder entsprechend aufgeteilt werden“. Doch noch läuft am EKO ein aufwändiger Umbau. Der Kindernotdienst ist immer noch provisorisch im SPZ untergebracht, weit entfernt von der Kinderklinik.
Wenn die Bauarbeiten abgeschlossen sind, solle die kinderärztliche Notdienstpraxis in die Räumlichkeiten des dann neuen Kinderkrankenhauses umziehen, erklärt ein Sprecher der KV Nordrhein – „in Form einer Portalpraxis, also mit einem gemeinsamen Tresen“. Und zur zeitlichen Perspektive: „Stand jetzt wird das voraussichtlich ab 1. Quartal 2025 der Fall sein.“
Im Ernstfall: 24-Stunden-Notaufnahme für Kinder
In echten Notfällen – akuten, schweren und chronischen Erkrankungen – stehen die Notaufnahmen der Kinderkliniken in umliegenden Städten zu jeder Tages- und Nachtzeit zur Verfügung. In Mülheim gibt es keine Kinderklinik mehr. Eine Anlaufstelle für Mülheimer Familien ist etwa die Kinder-Notaufnahme am Evangelischen Krankenhaus Oberhausen, Virchowstraße 20, Haus F, 0208/881-1303. In Essen steht beispielsweise die Kinder-Notaufnahme der Uniklinik, Hufelandstraße 55, zur Verfügung, Notfallnummer 0201/723-3350.
Vom Mülheimer Westen und Süden aus sind die Sana Kliniken in Duisburg-Wedau, Zu den Rehwiesen 9-11, relativ schnell erreichbar. Die dortige Ambulanz für Kinder- und Jugendmedizin ist in die Kinderklinik integriert und liegt im Erdgeschoss, 0203/733-3208 oder 0203/733-0 (Information). Von den nördlichen Mülheimer Stadtteilen ist es nicht weit zur Kinder-Notfallambulanz der Helios St. Johannes Klinik in Duisburg, Dieselstraße 185, im Rundbogen (ehem. Station 1, Zugang über den Haupteingang), 0203/5462175.
Wenn Kinder lebensbedrohlich erkrankt sind, sollten Eltern dagegen sofort den Rettungsdienst unter 112 anrufen.
Viele Kinderärzte gehen in absehbarer Zeit in Rente
Mit seinem jüngsten Alarmruf verbindet der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) auch politische Forderungen. Denn, so der Verband, der eigentliche Grund für die „dramatische Lage“ sei nicht die Infektwelle, sondern die Pädiatrie werde seit Jahren „finanziell ausgehungert“, während die Aufgaben immer mehr würden – weniger Klinikbetten, mehr Geburten, sprich: mehr Patienten, steigende Energiekosten.
Auch der Mülheimer BVKJ-Obmann Dr. Olaf Kaiser blickt besorgt in die Zukunft: Langfristig müssten mehr Kinderärzte ausgebildet werden, meint er, mehr Studienplätze angeboten, Bürokratie abgebaut werden. „Wir müssen dafür sorgen, dass junge Leute diesen Beruf gerne machen wollen. Aber wer will sich mit Mitte 30 schon so verschulden, in der augenblicklichen Lage?“ Viele Kinderärzte würden in absehbarer Zeit in den Ruhestand gehen, so Kaiser. „Noch sind wir in Mülheim bei einer guten Versorgung – doch wir müssen aufpassen, dass es so bleibt. Wenn wir jetzt nicht die Weichen stellen, ist da in einigen Jahren eine riesige Lücke.“