Mülheim. Für Tausende Mülheimer Senioren ist der Hausnotruf ein rettender Draht. Die Hilfsdienste erleben Fehlalarme, Stürze, aber auch große Einsamkeit.

Rund 20 Einsatzkräfte gehören zum Hausnotrufteam der Johanniter in Mülheim. Teils sind es ganz junge Leute, die die Schule gerade hinter sich haben. Wenn sie sich in der Rettungswache Dümpten den roten Notfallrucksack schnappen, ins Auto springen, zur Wohnung von Frau D. eilen. Dann wird diese höchstwahrscheinlich nur eine minimale Hilfestellung benötigen, aber sie wird mit glänzenden Augen von ihren Enkeln erzählen.

Manche drücken den Notrufknopf aus Einsamkeit, weil sie sich jemanden zum Reden wünschen. „Es gibt einige Teilnehmer, die das gerne machen“, sagt Jona Rommerswinkel, Schichtführerin beim Zentralen Einsatzdienst der Johanniter in Mülheim. „Dafür nehmen wir uns Zeit. Genauso wie für einen medizinischen Einsatz. Es ist ja auch ein Notfall“, meint die 20-Jährige.

Hausnotruf auch in Mülheim oft Signal der Einsamkeit

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Anfang Januar schreckte eine Meldung der Malteser in NRW auf. Sie hatten die Hausnotrufe über die Weihnachtsfeiertage und den Jahreswechsel ausgewertet. Bei mehr als der Hälfte der Alarme sei keine konkrete Hilfeleistung nötig gewesen, so die Malteser. Sie seien Signale der Einsamkeit. Soziale Hilferufe. In Mülheim hat der Hausnotruf der Malteser aktuell knapp 360 Kundinnen und Kunden. Alle Alarme gehen bei einer Zentrale im Rheingau ein, die Einsatzwagen starten vom Mülheimer Standort an der Karlsruher Straße.

Im vergangenen Jahr seien 250 Einsätze gefahren worden, berichtet Thorsten Schildt, stellvertretender Bezirksgeschäftsführer. „Gelegentlich geht es um das Thema Einsamkeit. Die Menschen melden sich dann nicht mit einem konkreten Grund, der eine Hilfeleistung erforderlich macht, sondern möchten ein offenes Ohr haben.“ Wenn die Besetzung es zulässt, fahren die Malteser auch in solchen Fällen raus. Ihr Angebot heißt ausdrücklich „sozialer Hintergrunddienst“, versteht sich als helfende Hand, die nicht nur medizinische Unterstützung im Gepäck hat. „Aber wir müssen uns natürlich in erster Linie für echte Notfälle freihalten“, so Thorsten Schildt.

Schon leichte Wahnvorstellungen: „Chinesen im Schrank“

Familiäre Themen seien es oft, die die alten Menschen mit anderen teilen möchten. Im Extremfall verzerrt das dauernde Alleinsein die Wahrnehmung: „Ich habe selber schon am Hausnotruf die Aussage gehört: ,Bei mir sind Chinesen im Schrank.’ Also leichte Wahnvorstellungen, die sich entwickelt haben“, so Schildt. Das Team in der Zentrale müsse dann beruhigend auf die Anrufer einwirken, oft helfe schon reines Zuhören. „Das Problem ist das ganze Jahr über vorhanden, nicht nur über die Feiertage.“ Durch den Verlust sozialer Kontakte während der Coronapandemie habe es sich spürbar verschärft.

Rund 1600 Wohnungsschlüssel von Kundinnen und Kunden hängen gesichert in der Rettungswache der Johanniter in Mülheim-Dümpten. Wenn ein Hausnotruf eingeht, werden sie von der Essener Zentrale für Schichtführerin Jona Rommerswinkel und ihr Team freigeschaltet.
Rund 1600 Wohnungsschlüssel von Kundinnen und Kunden hängen gesichert in der Rettungswache der Johanniter in Mülheim-Dümpten. Wenn ein Hausnotruf eingeht, werden sie von der Essener Zentrale für Schichtführerin Jona Rommerswinkel und ihr Team freigeschaltet. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Der Hausnotruf der Johanniter hat aktuell sogar 1600 Kundinnen und Kunden in Mülheim. Im Vorjahr seien „stolze 26.400 Meldungen reingekommen“, berichtet Dennis Bohnen, Sprecher des Regionalverbands, „darunter sehr viele, die keinen direkten Notrufbezug haben“. Viele An- oder Abmeldungen seien darunter, viele Testalarme, rund 4000 Fehlalarme. Aber auch 3850 echte Notrufe seien 2022 eingegangen, „das reicht von Stürzen, nach denen jemand eine Aufstehhilfe braucht, bis zu ernsten Notfällen, für die wir den Rettungswagen rufen“.

Johanniter: Manche lösen täglich den Notruf aus, um mit jemandem zu sprechen

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Rund 2000 Mal seien Wagen von der Rettungswache an der Straße Denkhauser Höfe losgeschickt worden, so der Johanniter-Sprecher. „Immer mal wieder sind auch Kunden dabei, die nur persönlichen Kontakt suchen. Manche lösen jeden Tag den Notruf aus und wollen nur zwei, drei Sätze mit der Zentrale sprechen.“ Diese sitzt, für ganz NRW, in Essen. Bewegende Anrufe gehen dort gelegentlich ein, „sogar die Bitte, dass sich Angehörige mal melden sollen, hat uns schon erreicht“.

Mehr als 1000 Kundinnen und Kunden hat auch der Hausnotruf des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Mülheim. Aufgeschaltet ist er über die DRK-Leitstelle in Düsseldorf, die Fahrzeuge und ein elektronischer Schlüsseltresor befinden sich im Hilfeleistungszentrum an der Aktienstraße. Eine vierstellige Anzahl von Hausnotrufen aus Mülheim sei 2022 eingegangen, sagt Bereichsleiterin Lisa-Marie Bruyne. Oft sei allerdings auch nur die Tagestastenfunktion betätigt worden: Ein automatischer Alarm, der ausgelöst wird, wenn sich die Kunden nicht routinemäßig morgens und abends melden.

DRK: In der Regel echte Notrufe, meist nach Stürzen zu Hause

„Dass Hilferufe allein aus Einsamkeit kommen, dass der Notruf also missbraucht wird, kann ich nicht bestätigen“, so Lisa-Marie Bruyne. In der Regel steckten wirklich Notrufe dahinter - meist seien die Senioren zu Hause gestürzt, aber unverletzt, und bräuchten Hilfe beim Aufstehen. „Gespräche, bei denen man wirklich merkt, hier ist jemand einsam, kommen eher in unserer Geschäftsstelle an. Und sie dauern dann oft länger.“