Mülheim. Ein Rentner-Ehepaar aus Broich verlor von Amts wegen kurzerhand ihr Obdach. Es kritisiert die Mülheimer Behörde, doch diese sieht sich im Recht.
Es fällt leicht, die Situation als Horrorszenario zu bezeichnen. Man sitzt zu Hause gemütlich auf der Couch, dann klingelt es plötzlich an der Tür und ein Behörden-Mitarbeiter teilt einem mit, dass man innerhalb von zwei Stunden aus seiner Wohnung raus muss, weil Lebensgefahr besteht. Wann man wieder zurückkehren darf? Keine Ahnung! Genau das ist dem Ehepaar Ruminski passiert.
„Wir Mieter hier im Haus haben eines Tages in unseren Briefkästen unverschlossene und unfrankierte Briefumschläge gefunden, die ganz pauschal an ‚Die Eigentümergemeinschaft‘ adressiert waren“, erinnert sich Hans-Werner Ruminski an den Beginn einer kleinen Odyssee. Seine Frau und er sind Mieter einer Wohnung an der Großenbaumer Straße.
Mülheimer Mieter: „Unser Vermieter wurde überhaupt nicht kontaktiert“
So erging es auch den Bewohnerinnen und Bewohnern vier angrenzender Häuser. Tatsächlich stand eines Tages eine Vertreterin des Amtes für Bauaufsicht und Denkmalpflege vor der Tür der Ruminskis und teilte dem Ehepaar nach einer kurzen Begehung der Wohnung mit, dass sie nun noch genau zwei Stunden Zeit hätten, ihre vier Wände zu verlassen. Es bestünde Lebensgefahr. Der von den Ruminskis eingelegte Widerspruch blieb wirkungslos, hatte auch keinen aufschiebenden Charakter.
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Was war passiert? Laut Aussage der Ruminskis wurde bei Baumaßnahmen in einem nebenliegenden, baugleichen Haus amtlich festgestellt, dass dort bei einigen Wohnungen ein zweiter Rettungsweg fehlte. Das Bauamt habe daraus abgeleitet, dass dies auch in den benachbarten Häusern der Fall sei, und habe unverschlossene und an „Die Eigentümergemeinschaft“ adressierte Umschläge in alle Briefkästen geworfen, so Hans-Werner Ruminski. „Unser Vermieter, der Eigentümer, wurde überhaupt nicht kontaktiert und hat erst durch uns von der ganzen Angelegenheit erfahren“, wundert er sich noch heute.
Mülheimer Paar musste vorerst bei Freunden unterkommen
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Nach dem Ortstermin kehrte die Dame vom Amt exakt zwei Stunden später zurück – begleitet von vier Polizisten und zwei Mitarbeitern des Ordnungsamtes. So standen insgesamt sieben Personen bereit, um das Pensionärspaar Ruminski notfalls unter Zwang aus seiner Wohnung zu holen. Da es für sie nach eigener Darstellung außer Frage stand, sich der Maßnahme nicht zu widersetzen, packten die beiden ein paar Sachen und nutzten die Möglichkeit, bei Freunden unterzukommen.
Zwei Wochen lang duften die Ruminskis nur dann in ihre Wohnung, wenn sie diesen Bedarf zuvor beim Ordnungsamt anmeldeten. Dreimal beantragten sie einen solchen Besuch ihrer eigenen Wohnung und trafen sich dazu dort mit einem Amtsmitarbeiter, der die Wohnung dann entsiegelte, damit das Paar seine vier Wände betreten, Wäsche tauschen und Wichtiges erledigen konnte. Zwei Stunden später kam der Mitarbeiter dann wieder, um die Wohnung erneut zu versiegeln.
Mülheimer Paar war vier Monate aus seinem Alltag gerissen
Nach Ablauf von zwei Wochen durften die Ruminskis zwar tagsüber in ihre Wohnung zurück, aber keineswegs dort übernachten, denn das Schlafzimmer liegt im oberen Teil der Wohnung – und dort musste zunächst noch ein spezielles „Rettungsfenster“ eingebaut werden.
Am Ende zog sich der gesamte Prozess über einen Zeitraum von vier vollen Monaten. So lange dauerte es, bis das Paar komplett in seine Wohnung zurückkehren konnte, denn hinter dem Haus steht nun auch, unmittelbar vor dem Balkon, eine Gerüstbau-Treppe – der provisorische zweite Rettungsweg.
Mülheimer Bauaufsicht: Wer nicht handelt, macht sich womöglich strafbar
Axel Booß ist der Leiter des zuständigen Amtes für Bauaufsicht und Denkmalpflege. Er sieht weist die Kritik der Ruminskis zurück. Ausführlich ging er auf Anfrage dieser Redaktion auf alle Kritikpunkte ein. „Der Bauaufsicht war nicht bekannt, welche gemeldete Person in welcher Wohneinheit wohnte, sodass die gewählte Art der Information die offensichtlich Beste war, um sicher alle betroffenen Personen zu erreichen“, teilte er schriftlich mit. So seien die Ordnungsverfügungen „personenbezogen verfasst sowie förmlich und damit rechtssicher zugestellt worden“.
Der Amtsleiter sieht auch keine Probleme, was die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen angeht. Handlungsbedarf habe es „unstrittig gegeben. Bei fehlenden zweiten Rettungswegen ist keine Ermessensentscheidung für die Bauaufsichtsbehörden mehr gegeben, weil eine konkrete Gefahr festzustellen ist“, so der oberste Bauaufseher. Die konkrete Gefahr gelte es in einem solchen Fall unmittelbar zu beseitigen. Würde eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter seiner Behörde beim Fehlen eines zweiten Rettungsweges nicht handeln, seien sie im Fall der Fälle strafrechtlich zu belangen. Da seiner Behörde am baugleichen Nachbarhaus das Fehlen eines zweiten Rettungsweges aufgefallen sei, habe man dem Verdachtsmoment nachgehen müssen. Es habe sich nicht um eine lose Vermutung gehandelt, die einen Vorwurf der Willkür rechtfertigen könnte.
Ehepaar will den Fall juristisch prüfen lassen
Stelle das Amt das Fehlen eines zweiten Rettungsweges fest, so Booß weiter, könne eine Räumung nur vermieden werden, wenn noch am gleichen Tag einer Gerüsttreppe installiert werde, die alle Einheiten der Immobilie in jedem betroffenen Geschoss andiene. Große Eigentümergemeinschaften oder Wohnungsunternehmen seien dazu meist in der Lage.
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Die massive Präsenz von Einsatzkräften bei den Ruminskis erklärt Booß auch. Die Eheleute hätten die angeordnete Räumung zunächst nicht akzeptiert. In solchen Fällen sei es gängige Praxis, Ordnungsamt und Polizei hinzuziehen. Wie viele Kräfte die Polizei letztlich vorbeischicke, werde von ihr selbst bestimmt. Es sei „der schlimmste Teil unseres Berufes“, Hausbewohner dazu aufzufordern, ihre Wohnung binnen kurzer Zeit verlassen zu müssen, sagt Booß und setzt auf Verständnis für behördliche Zwänge.
Die Ruminskis bleiben dabei: Sie haben für das Vorgehen des Bauamtes kein Verständnis und ihre Rechtsschutzversicherung in Anspruch genommen, um den gesamten Fall juristisch prüfen zu lassen.
Wie vielen Mülheimer droht auch die plötzliche Räumung?
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Eine Frage stellen sich womöglich nun viele Mieter und Hauseigentümer in Mülheim: Kann es morgen auch mich treffen und ich muss kurzerhand mein Haus oder meine Wohnung verlassen? Ausschließen kann Booß das nicht. Dass ein zweiter Rettungsweg fehle, könne auffallen, wenn – wie im beschriebenen Fall – für Nachbarhäuser Bauanträge geprüft würden, aber auch bei Brandverhütungsschauen, zu denen die Feuerwehr gemäß der gesetzlichen Vorgaben im Gesetz über den Brandschutz, die Hilfeleistung und den Katastrophenschutz (BHKG) ausrücke. Bei Auffälligkeiten schalte die Feuerwehr dann die Bauaufsicht ein. Diese fahre dann womöglich sofort raus und prüfe die Sachlage vor Ort. In anderen Fällen agiere sie auch schriftlich. 30 bis 50 Fälle bearbeite seine Behörde pro Jahr, so Booß. Vor der Politik hieß es zuletzt, dass es 15 bis 20 Mal pro Jahr dazu komme, dass Menschen die Nutzung ihrer Wohnung untersagt werde.
„Gerade aus den 1970er-Jahren gibt es teilweise kuriose Genehmigungen“, erzählt Mülheims oberster Bauaufseher, dass mitunter etwa ein zweiter Rettungsweg dergestalt genehmigt worden sei für bis zu sechs- oder siebengeschossige Gebäude, dass Bewohner im Brandfall sich über den Nachbarbalkon retten könnten. „Was mache ich denn, wenn ich auf dem Nachbarbalkon bin?“, stellt Booß eine rhetorische Frage zum Unsinn solcher Genehmigungen. Heute, insbesondere als Folge des verheerenden Brandes seinerzeit am Flughafen Düsseldorf, seien die Brandschutzbestimmungen wesentlich schärfer. Daran habe sich seine Behörde zu halten.
„Ich gehe nicht davon aus, dass wir eine riesige Problemlage haben“
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Bei Einfamilienhäusern gölten die Fenster als zweiter Rettungsweg, weil die Feuerwehr im Ernstfall dort direkt anleitern könne, sagt Booß. Wichtig sei in ausgebauten Dachgeschossen, dass es funktionstüchtige, ausreichend große und nicht zu hoch verbaute Fluchtfenster mit Trittstufen als Verlängerung gebe. Bei Häusern mit einer Höhe von acht bis 22 Metern muss eine Rettung mit Hubleiter sichergestellt sein. Hochhäuser mit einer Höhe ab 22 Metern bedürfen eines zweiten Treppenhauses.
Aber wie vielen Wohngebäuden in Mülheim mangelt es wohl an einem zweiten Rettungsweg, so dass die Räumung droht, sollte die Bauaufsicht dem gewahr werden? „Ich gehe nicht davon aus, dass wir eine riesige Problemlage haben“, sagt Booß. „Der Klassiker“ unter den Fällen, in denen seine Behörde einschreite, seien illegal ausgebaute Dachgeschosse in Mehrfamilienhäusern. Im heutigen Wohnungsbau seien Mängel selten festzustellen.