Mülheim. Um Klimaziele und Energiewende zu schaffen, müsste Mülheim Solarstrom und Wärmepumpen erheblich ausbauen. Was dabei auf die Bürger zukommt.

Kommt nun durch die Energiekrise auch der lang erhoffte Ruck für klimafreundliche Energie und Wärme in Mülheim an? Zumindest hat ein Bericht des Fraunhofer-Instituts für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung (Ifam) die Defizite bei der Wärme, der Energieerzeugung und im Verkehr in der Ruhrstadt schonungslos aufgedeckt.

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Was nun zu tun wäre? Nur mit Photovoltaik auf jedem Mülheimer Dach und auf Freiflächen sowie 1750 installierten Wärmepumpen pro Jahr plus deutlich reduziertem Autoverkehr wäre die Klimaneutralität und der verbundene Energiebedarf für Mülheim bis 2035 zu erreichen. Denn Wärmepumpen und E-Mobile verschlingen viel Strom, der künftig ohne Öl und vor allem Gas erzeugt werden soll. Drei Szenarien und verbundene Maßnahmen hat die Ifam unter die Lupe genommen. Doch nur mit dem Weitreichendsten ließe sich das überhaupt erreichen, wozu Mülheim sich bereits vor zwei Jahren mit dem Klimanotstand verpflichtet hatte: klimaneutral bis 2035 zu werden. Das wäre jetzt zu tun:

Ab 2023 müsste Mülheim sechs Wärmepumpen pro Tag installieren

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Mülheim hat schon aktuell einen enormen Energiebedarf von mehr als 4000 Gigawatt im Jahr, die erneuerbare Energieerzeugung spielt mit einem Anteil von nur sechs Prozent bislang weder bei der Wärme noch beim Strom und im Verkehr eine nennenswerte Rolle. Die Wärme macht mit 2300 Gigawatt den größten Bereich aus.

In nur 13 Jahren aber müsste Mülheim seine bisherige Wärmeerzeugung und -netze auf den Kopf stellen. Denn Heizen mit Öl (Anteil heute: weniger als 20 Prozent) gehört in diesem Szenario der Vergangenheit an, und auch Gas, das heute einen Anteil von mehr als 60 Prozent hat, würde allenfalls im hybriden System mit Solarthermie und Wärmepumpen die Spitzen abdecken.

Wärmepumpen, die mit Luft-Wasser oder Sole-Wasser arbeiten, müssten dagegen den überwiegenden Teil der Wärme abdecken. Sechs solcher Anlagen am Tag oder auch 1750 im Jahr müssten ab 2023 gebaut werden. Und selbst, wenn man das Klimaziel erst 2045 erreichen wollte, bräuchte es noch 1000 im Jahr. Das zweite Wärme-Standbein (rund 45 Prozent) aber müsste die Nahwärme ausmachen, doch wer liefert sie?

1750 Wärmepumpen im Jahr müsste Mülheim ab 2023 bauen, um in 13 Jahren klimaneutral werden zu können. Selbst um das Ziel erst 2045 zu erreichen, müssten es 1000 im Jahr sein.
1750 Wärmepumpen im Jahr müsste Mülheim ab 2023 bauen, um in 13 Jahren klimaneutral werden zu können. Selbst um das Ziel erst 2045 zu erreichen, müssten es 1000 im Jahr sein. © Ralf Rottmann / Funke Foto Services

Wie die Ruhr künftig auch unsere Wärme liefern könnte

Klar ist, dass Wärme auch abseits der Wärmepumpen zunehmend dezentral erzeugt werden müsste, etwa in Form von Blockheizkraftwerken (BHKW), durch große Flusswasser-Wärmepumpen in der Ruhr – daran zeigt sich der Mülheimer Energiedienstleister Medl sehr interessiert – sowie durch industrielle Abwärme. Ifam rechnet absehbar sogar mit Geldstrafen, wenn Unternehmen ihre Abwärme nicht zur Verfügung stellen sollten.

Mit BHKW hat die Medl bereits Erfahrungen gesammelt, im Klimaschutzbeirat aber gab sie schon zu bedenken, dass dafür entsprechende Gesetzgebung, mehr Flächen und vor allem mehr Bürgerakzeptanz notwendig wären.

Und noch etwas anderes wird deutlich: Der freie Wärmemarkt wäre mit der dezentralen Versorgung ebenso Geschichte. Vielmehr müsste die Stadt nun klarer vorgeben, welche Quartiere mit welcher Nahwärme versorgt werden sollen. Damit müssten wohl auch die bestehenden Netze umgebaut werden.

Deutlich mehr Photovoltaik ist einer der Schlüssel zur Energiewende auch in Mülheim.
Deutlich mehr Photovoltaik ist einer der Schlüssel zur Energiewende auch in Mülheim. © Shutterstock/Jenson | Jenson

Verkehr: Drei Viertel der Fahrzeuge müssen bis 2035 einen Stecker haben

Der enorme Autoverkehr in der Stadt – Anfang 2022 waren es 95.340 Pkw oder auch 109.618 Kfz – verschlingt entsprechende Energien: Mit 1111 Gigawatt ist er laut Ifam der zweitgrößte Sektor. Der Schlüssel für Klimaneutralität ist hier die Elektromobilität, wenn auch nicht etwa als Wasserstoff-Brennzelle, sondern als Batterie. Kurzum: Drei Viertel der Fahrzeuge müssten bis 2035 einen Stecker haben.

Dafür braucht es Ladepunkte, bis zu 60.000 private und solche, die beim Arbeitgeber liegen. Nicht weniger wesentlich aber sind die der öffentlichen Infrastruktur. Rund 2000 müssen es stadtweit werden, die im Straßenraum und auf Kundenparkplätzen stehen – im Vergleich: Aktuell sind es etwas mehr als 50. Bislang überließ die Stadt dies dem Markt, der rein wirtschaftlich auf die Lage schaute.

Und dennoch müsste die Stadt aus Sicht der Ifam deutlich stärker umweltfreundliche Mobilitätsformen wie das Fahrrad, den Fußverkehr, ÖPNV und Car-Sharing fördern. Und den Pkw-Verkehr einschränken, etwa Parkplätze durch Fahrradwege ersetzen – in Mülheim ein großes Tabu.

Der Schlüssel für den Stromhunger: PV – PV – PV

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Doch die gigantische Zahl an Wärmepumpen, der massive Ausbau der E-Mobilität wird mehr Strom denn je benötigen. Die gute Nachricht: Mülheim hat ein Energie-Potenzial von bis zu 800 GWh/a erneuerbare Stromerzeugung. Sogar rund 80 Prozent davon könnten von Photovoltaik-Anlagen gespeist werden.

Zwei Haken: Aktuell liefern Photovoltaikanlagen gerade einmal acht Prozent oder 60 Gigawattstunden. Und mehr als die Hälfte muss über Mülheims Dächer geliefert werden. Der zweitgrößte Anteil soll von Anlagen auf Freiflächen stammen. Wind, Wasserkraft und Bioenergie spielen wohl eine untergeordnete Rolle. Rund 40 Megawattpeak – das sind 2400 Dachanlagen – im Jahr müsste Mülheim dafür installieren. Im Klimabeirat gab es deshalb nur einen Rat: „PV – PV – PV!“

Doch damit wäre Mülheim noch immer darauf angewiesen, seinen Gesamtenergiebedarf von außen etwa mit Wasserstoff abzudecken.

Steht Mülheim vor einer unlösbaren Aufgabe?

Steht Mülheim also vor einer eigentlich unlösbaren Aufgabe? Deutliche Kritik daran, dass die Erfüllung der von der Stadtpolitik gesetzten Klimaziele mal wieder hauptsächlich privat von den Bürgern getragen werden müssen, gab es im Klimaschutzbeirat. Und auch im Umweltausschuss hegte die CDU bereits Zweifel an der Erfüllbarkeit in nur 13 Jahren. Man solle auch „Kompensationsflächen“ wie den Wald und die Ackerflächen einbeziehen, um die Lücke bei den Klimazielen zu schließen. Mancher gar liebäugelte schon mit dem weniger ambitionierten Ausweg für die Kommune, indem man sich der Zielsetzung der Bundesregierung anschließt, die Klimaneutralität erst 2045 zu erreichen.