Mülheim. Die Mülheimer Ingenieurin Anke Schniewind und Designer Hermann Rokitta haben die Kochkiste unter die Lupe genommen. Das Ergebnis ist verblüffend.

Kann man wohl beim Kartoffeln kochen mehr Energie einsparen als man mit einer großen Photovoltaikanlage erzeugen kann? Ja, wenn man dazu eine Kochkiste nutzt. Die Mülheimer Ingenieurin und Geodätin Anke Schniewind und der Designer Hermann Rokitta haben eine Erfindung des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt. Das Potenzial in Energiekrisenzeiten ist erstaunlich.

Dabei sieht das Ding, das Schniewind mit Obacht und Topflappen lupft, ziemlich unspektakulär aus: Eine Holztruhe mit zwei Deckeln – eben wie Omas Mottenkiste in der Dachstube. Die Innenwände der Kiste sind mit Baumwoll- oder Leinentüchern ausgekleidet. „Man könnte auch Schafwolle, Leinen, Zelluloseschnipsel aus Zeitungen oder Stroh zum Dämmen nehmen, Hauptsache keine synthetischen Stoffe“, rät Schniewind wegen der Feuchtigkeit. Der beim Deckellupfen aufsteigende Dampf verrät: Drinnen ist es noch verdammt heiß. „Vooorsicht“, mahnt die Ingenieurin mit Blick auf das drinnen siedende Risotto.

Kochen wie die Uroma wird durch die Krise hochmodern

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„Heinzelmännchen-Kochkiste“ nannte man sie vor gut 100 Jahren. Das Ganze kann natürlich auch extrem hip aussehen und als blaues Lifestyle-Möbel, runde Thermobox aus maßgeschneidertem Styropor oder bedeutend nachhaltiger gar als selbstgenähter karierter Sack daher kommen. „Die Anleitungen zum Selbermachen findet man im Internet“, so der Tipp der Mülheimer Wiederentdeckerin.

Die Idee dabei ist jedoch stets ähnlich: Die Kartoffeln, der Reis, das Gulasch oder auch die Suppe werden wie üblich für eine kurze Zeit – meist etwas mehr als zehn Minuten – zum Kochen gebracht. Dann kommt der heiße Topf in die Kiste, die Box oder den Sack. Dort gart das Ganze auf Restwärme für eine Weile.

Rezeptbücher für nachhaltiges und klimafreundliches Kochen gibt es nicht nur in Uromas Antiquariatsbuchhandlung, sondern inzwischen existiert eine Menge neue Literatur und natürlich ist das Internet eine Quelle. Schniewind bedient sich etwa bei der praktischen Outdoor-Küche, „weil man dort meist nur eine Kochplatte zur Verfügung hat und improvisieren muss“.

Das gelingt auch mit einer einfachen Styropor-Box: Hermann Rokitta und Anke Schniewind haben mit nur elf Minuten am Herd und langer Garzeit ein Risotto gezaubert.
Das gelingt auch mit einer einfachen Styropor-Box: Hermann Rokitta und Anke Schniewind haben mit nur elf Minuten am Herd und langer Garzeit ein Risotto gezaubert. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Wie das Energiesparen die Energieerzeugung toppt

Ihre These aber ist: Während aktuell alle über die Erzeugung von Energie reden, müsste man vielmehr über die Chancen der Energieeinsparung sprechen. Denn die Kochkiste spart zum Beispiel so viel, dass sie eine große PV-Anlage gut ersetzen könnte. Die Rechnung geht so: Kartoffeln kochen normalerweise rund 30 Minuten. Setzt man aber die Kiste ein, reduziert sich die Zeit auf der Platte auf zehn.

In konkreten Zahlen: Angenommen eine große Herdplatte verbraucht in einer Stunde etwa 1,8 Kilowattstunden (kWh) an Strom, für Kartoffeln also normalerweise 0,9 kWh. Mit der Kochkiste aber ließen sich nun 0,6 kWh pro Anwendung einsparen. Zu mickrig? Abwarten.

Denn bei nur einer Anwendung pro Woche spart sie im Jahr schon 31,2 kWh – oder in Stromkosten gerechnet rund 10 Euro. Noch zu unspektakulär? Das ist eine Frage des Betrachtungswinkels. Die Ingenieurin schaut dabei auf die Ruhrstadt insgesamt. Würden nur 1,5 Prozent der rund 87.000 Mülheimer Haushalte einmal pro Woche mit der Kochkiste kochen – das wären etwa 1305 Haushalte – sparte das etwa 40.700 Kilowattstunden Strom im Jahr. „Das ist ungefähr so viel wie der jährliche Stromertrag der Solaranlage auf dem Technischen Rathaus“, rechnet sie – die Anlage habe etwa 32,3 Kilowattpeak.

So kann die Kochkiste zur Klimaneutralität beitragen

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Das ließe sich enorm steigern, wenn man die Kiste häufiger einsetzte oder eben mehr Mülheimer mitmachten. Bei doppelt so vielen Nutzungen wären es zwei vergleichbare Solaranlagen, bei gleichzeitig doppelt so vielen Haushalten schon vier. Und so weiter.

Und auch bei den Kosten wird’s interessant: Die Anwendung der Kochkiste kostet null Euro, der Bau der Solaranlage in dieser Größenordnung wohl nach aktuellem Stand rund 45.000 Euro. Na klar: Auch die Anschaffung einer Kochkiste kann etwas kosten, wer das will, kann zwischen 20 und 50 Euro ausgeben. Oder eben selbst aus Styropor bauen oder nähen. Do-it-yourself-Anleitungen gibt es dazu einige. Stellt man aber diese Anschaffung gegenüber, kommt man auf null bis 65.000 Euro für den Einstieg.

Doch auch für das Ziel der Klimaneutralität – bis 2035 hat Mülheim beschlossen neutral zu werden – rentierte sich die ganze Kiste: 252 Gramm CO2 spart nur einmal Kartoffeln kochen in der Woche, aufs Jahr gerechnet sind das 13,1 Kilo und auf 1,5 Prozent der Haushalte gesehen sogar 17,1 Tonnen Kohlendioxid.„Kein Schritt ist zu klein“, kommentiert Anke Schniewind frei nach Greta Thunberg.

Utopien für die Küche

Für den Industriedesigner Hermann Rokitta ist das Potenzial der Kiste riesig – auch geschmacklich: „Das Kochen mit viel Energie zerstört auch Vitamine und die Aromen. Beim Garen können sie sich entfalten“, schwärmt dieser. Zugegeben: Das Risotto – nur elf Minuten auf dem Herd – zeigt frisch aus der Kiste noch etwas Biss, während die Paprika gerade auf den Punkt ist. Das aber ist eine Frage des kulinarischen Fingerspitzengefühls.

Die Entwicklung ist noch nicht an ihrem Ende: Industriedesigner Hermann Rokitta hat die moderne Kochkiste im Sinn. Sie ist mobil und hat die Herdplatte mit Energiezelle und App-Steuerung schon integriert.
Die Entwicklung ist noch nicht an ihrem Ende: Industriedesigner Hermann Rokitta hat die moderne Kochkiste im Sinn. Sie ist mobil und hat die Herdplatte mit Energiezelle und App-Steuerung schon integriert. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Eine Sache aber stört Rokitta noch, „die Platte hat ja noch Wärme, nachdem man den Topf in die Kiste gepackt hat“. Die ließe sich aber nutzen, indem man diese in die Kiste integrierte. Der Designer arbeitet an verschiedenen Modellen für zu Hause und unterwegs, die mal aussehen wie ein Thermomix, mal wie ein Reisetrolley.

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Ganze Gerichte könnten so auf unterschiedlichen Ebenen geschichtet vor sich hin garen – je nachdem, wie lange sie benötigen. „Unplugged Cooking“ nennt er sein Konzept, das als geschlossenes System mit Energiezelle und per App Bescheid geben soll, wann die Mahlzeit angerichtet ist. Kochen wir also künftig ohne Herd? Für Rokitta eine mögliche Utopie, die auch die Küche als Raum verändern würde. Was aber ist dann mit dem anregenden Duft beim Zubereiten, dem neugierigen Topfdeckel heben, dem Naschen? Die Frage stellt sich auch der Designer, ist sich aber sicher, dass Ressourcensparen weiter die Zukunft sein wird: „Die Entwicklung ist noch nicht an ihrem Ende.“