Mülheim. Wenn Russland weiter mit dem Gasventil spielt, geraten lokale Stadtwerke in Not. Warum Mülheims Medl sich umstellen muss und wie sie reagiert.

Nur noch etwa 21 Prozent der einstigen Liefermenge an russischem Gas fließt aktuell noch durch Nordstream 1 nach Deutschland. Mit der Gaskrise wird die Forderung nach einer „Wärmewende“ lauter. Statt Gas zu verheizen, steigt die Frage nach Wärmepumpen, Solarthermie und Abwärmenutzung. Schlechte Zeiten für Gasunternehmen, weshalb NRW an einem Schutzschirm für Stadtwerke arbeitet. Muss auch der Mülheimer Energiedienstleister (Medl) dringend sein Kerngeschäftsmodell ändern?

Medl-Geschäftsführer Hendrik Dönnebrink und den Abteilungsleiter im Bereich „Wärme/Dezentrale Energiesysteme“ Volker Weißhuhn lässt die Frage aufhorchen. Denn noch beliefert die Medl rund 65.806 von städteweit 94.293 Mülheimer Wohnungen – laut Geschäftsbericht sogar 400 mehr noch als im Vorjahr 2020. Und das werde absehbar wohl so bleiben, rechnet Medl-Geschäftsführer Dönnebrink. Denn um Altbauten auf Heizalternativen umzurüsten, müssten Eigentümer schon deutlich mit Fußboden- und Flächenheizkörpern in die Infrastruktur von Gebäuden eingreifen – und die Handwerker dazu haben.

Die Risiken: steigende Beschaffungspreise und Zahlungsausfälle

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Und doch gibt es Risiken: Immer knapperes und teureres Gas zwingen Energieunternehmen wie Stadtwerke, aktuell teuerer einzukaufen und für die Erfüllung ihrer Lieferverträge deutlich mehr Geld in die Hand nehmen zu müssen. „Unser durchschnittlicher Beschaffungspreis für Strom und Gas ist schließlich im letzten Quartal 2021 um 50 Prozent gestiegen“, teilt auch Vertriebsleiter Jan Hoffmann im Geschäftsbericht 2021 mit.

Und: Die enormen Energiepreise können bei Kunden zu Zahlungsausfällen führen. Wie berechtigt ist also in Mülheim die Sorge, dass das Mülheimer Unternehmen in Not gerät? „Die politische Bewertung von Gas macht gerade eine Wellenbewegung. Nach Fokushima galt es als Zukunft, jetzt macht die Bundesregierung eine Vollbremsung. Ist diese Radikalität angemessen?“, fragt Geschäftsführer Dönnebrink, macht aber deutlich: „Wir sind nicht definiert als Gasversorger.“

Dezentrale Energie ist aus Sicht der Medl die Zukunft: Das recht neue Blockheizkraftwerks an der Sandstraße liefert mit hohem Wirkungsgrad aus Gas sowohl Strom als auch Wärme für rund 4000 Haushalte im Bereich Stadtmitte. „Dafür brauchen wir aber Grundstücke“, argumentiert Medl-Geschäftsführer Hendrik Dönnebrink.
Dezentrale Energie ist aus Sicht der Medl die Zukunft: Das recht neue Blockheizkraftwerks an der Sandstraße liefert mit hohem Wirkungsgrad aus Gas sowohl Strom als auch Wärme für rund 4000 Haushalte im Bereich Stadtmitte. „Dafür brauchen wir aber Grundstücke“, argumentiert Medl-Geschäftsführer Hendrik Dönnebrink. © Martin Möller / Funke Foto Services | Martin Möller

Wer das Mülheimer Unternehmen verfolgt, sieht die Medl spätestens seit 2017 auf anderen Geschäftspfaden – in Richtung Photovoltaik-Anlagen (414.579 Kilowattstunden), damit verbundenem Ausbau der E-Mobilität (aktuell 311 Ladepunkte), Stromerzeugung durch Windkraft (4.590.185 kWh), dezentrale Energieversorgung, Glasfaserausbau. An dessen Ende könnte eines stehen: die smarte Klima-Stadt, die über den Austausch von Daten die Energieversorgung optimiert und so sparen kann.

Die Chancen: Welche Geschäftsfelder die Zukunft der Medl weiter sichern können

Denn seit 2020 hat der Energiedienstleister ein schmalbandiges Funknetzwerk aufgebaut - das Long Range Wide Area Network (LoRaWAN) – welches per Funk kostengünstig Daten austauscht. Es liest Wärmezähler und -netze aus, wacht über Mülleimerfüllstände, spürt aber auch Ratten im Kanal der Medl-Tochter SEM auf.

„Die Anwendungsfälle sind riesig“, ist Medl-Experte Volker Weißhuhn überzeugt: LoRaWAN kann die Parkplatzbelegung und E-Ladesäulen überwachen, Umweltdaten messen, Verkehr zählen und regulieren. Spannend sind aber Verknüpfungen von Daten: Wetterdaten mit Regelungen von Heizungsanlagen, Verkehr mit der Belegung von Parkplätzen, Ladesäulen oder gar Umweltbelastung. 26 Gateways und sechs Indoor-Gateways in der gesamten Stadt senden aktuell Daten. „Es geht darum, möglichst viele und exakte Daten zu sammeln, um die Umgebung transparent zu machen“, sagt Weißhuhn.

Schöne neue Welt? Die Daten seien anonymisiert und nicht mit Personendaten verknüpft, versichert die Medl. Und noch ist diese „smarte“ Welt weitestgehend eine Vision.

Neue Geschäftsfelder hat sich die Medl inzwischen erschlossen: Der Ausbau des Glasfasernetzes ist im April in Mintard gestartet, im Bild (v.l.) Simon Becker (Telekom), Marcel Thelen (Gigabit Koordinator), Hendrik Dönnebrink (Medl), Jörg Hanitz (Projektleiter), Burkhard Malcus (Medl), Elke Oesterwind (Bezirksbürgermeisterin), OB Marc Buchholz, Oliver Linsel (Medl Aufsichtsrat).
Neue Geschäftsfelder hat sich die Medl inzwischen erschlossen: Der Ausbau des Glasfasernetzes ist im April in Mintard gestartet, im Bild (v.l.) Simon Becker (Telekom), Marcel Thelen (Gigabit Koordinator), Hendrik Dönnebrink (Medl), Jörg Hanitz (Projektleiter), Burkhard Malcus (Medl), Elke Oesterwind (Bezirksbürgermeisterin), OB Marc Buchholz, Oliver Linsel (Medl Aufsichtsrat). © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Was die dezentrale Energieversorgung noch hemmt

Näher und greifbarer sind da die Bemühungen, die schon vorhandenen dezentralen Blockheizkraftwerke der Medl auszubauen. Das Stichwort lautet „energetische Quartiersentwicklung“. Am Bottenbruch etwa hat die Medl mit dem MWB Wärme- und Stromversorgung durch Photovoltaikanlagen auf dem Dach verknüpft mit einem Mieterstromkonzept, E-Ladestationen sowie E-Fahrzeugen, die als Stromspeicher dienen können. Das Funknetz LoRaWAN verbindet auch hier die unterschiedlichen Energiequellen aus Photovoltaik, Blockheizkraftwerk und Strom aus dem Netz.

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Weißhuhn kann die Wirkung im Vergleich von sonnigen und bedeckten Tagen zeigen: Am sonnigen 3. Juni 2020 deckte die PV-Anlage zwischen 12 und 18 Uhr nahezu den gesamten Stromverbrauch ab und in den Randzeiten auch einen Teil des Blockheizkraftwerks. Am eher bedeckten 4. Juni 2020 hingegen übernahm das BHKW den größten Anteil, Strom aus dem Netz aber wurde an beiden Tagen hauptsächlich zwischen ein und sechs Uhr nachts benötigt.

Mehr solcher weitestgehend autonomer Quartiere könnten in Mülheim entstehen. „Um die Energiewende zu schaffen, müssen wir dafür aber auch Eingriffe in die Umwelt zulassen“, zeigt Dönnebrink auf das geplante Blockheizkraftwerk am Heißener Friedrich-Wennmann-Bad. Das soll ab Anfang 2023 rund 1000 Haushalte versorgen. Doch es gibt auch Kritik aus der Bürgerschaft und Politik, weil für die dezentrale Versorgung Grünfläche fallen muss – „wenn wir die Energiewende schaffen wollen, muss das in den Köpfen ankommen. Wir brauchen mehr Grundstücke und weniger ,St.-Florian-Prinzip’“, entgegnet Dönnebrink.

Im Quartier Bottenbruch hat die Medl mit der MWB und weiteren Akteuren aus der Wissenschaft ein Blockheizkraftwerk mit einer Photovoltaik-Anlage sowie E-Mobilität verknüpft.
Im Quartier Bottenbruch hat die Medl mit der MWB und weiteren Akteuren aus der Wissenschaft ein Blockheizkraftwerk mit einer Photovoltaik-Anlage sowie E-Mobilität verknüpft. © Martin Möller / Funke Foto Services | Martin Möller

Viele Geschäftsfelder: Medl braucht immer neue Fachkräfte

Das würde auch für die Mülheimer Dächer gelten, die mit wärmeerzeugender Solarthermie- und stromliefernder Photovoltaik-Anlagen ausgestattet werden müssen. „Wir kämpfen um jedes Dach“, bekräftigt Weißhuhn. Doch hier bremsen derzeit Materialengpässe. Wer heute bestellt, darf wohl vor Frühjahr 2023 nicht mit einer Umsetzung rechnen.

Und nicht zuletzt braucht es mehr Fachkräfte für die unterschiedlichen Geschäftsfelder der Nahwärmeerzeugung, der Instandhaltung von unterschiedlichen Anlagen und der Produktentwicklung. „Die Erweiterung um den Bereich Photovoltaik hat 2017 einen Organisationswandel ausgelöst, und wir brauchen weiter immer neue Fähigkeiten“, zeigt Dönnebrink auf. Fachinformatiker, Elektroniker und Anlagenmechaniker zählen inzwischen zu Ausbildungsberufen der Medl. Sogar Mitarbeiter für ein eigenes Materiallager werden benötigt.

Auch das zeigt den Wandel der Medl auf, weg vom reinen Gasversorger. Muss also die Medl ihr Geschäftsmodell ändern? Man könnte sagen, sie hat sich schon auf den Weg gemacht.

Erdgasversorgung bringt der Medl am meisten Umsatz

Die Erdgasversorgung ist mit einigem Abstand noch immer Medls Hauptgeschäft. Die Umsatzerlöse betrugen hier 38,5 Millionen Euro (2020: 33,4) – das sind knapp 40 Prozent der gesamten Umsatzerlöse. Mit dem Stromverkauf erzielte das Unternehmen 25,5 Mio. Euro (2020: 21,5) an Umsatzerlösen, die Erzeugung von Strom brachte 9,2 Mio. Euro (2020: 8,4) an Umsatzerlösen ein.

Doch auch die Energiebezugskosten sind 2021 spürbar gestiegen von 48,6 Millionen Euro (2020) auf 57,9. Am Ende erwirtschaftete die Medl im vergangenen Jahr 12 Millionen Euro Gewinn und steigerte diesen gegenüber 2020 um rund eine Millionen.