Mülheim. Mülheimer Muslime des Marokkanischen Kultur und Sportvereins bekochen im Ramadan Bedürftige. Ein Besuch zeigt: Bedürftigkeit hat viele Gesichter.

Es ist kurz nach sechs und die ersten Leute stellen sich in einer stetig länger werdenden Schlange in der Bahnhofshalle auf. Im Mülheimer Hauptbahnhof duftet es nach geschmorten Gemüse und Hähnchenschenkeln. „Die Leute wissen, es gibt immer um halb sieben Essen“, erklärt Mostafa Chebbac. Er ist Mitglied im Marokkanischen Sport und Kulturverein, der während des Ramadans den Verein „Solidarität in Mülheim“ bei der Essensausgabe für Bedürfte ablöst.

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Ein Mann steht breit grinsend an erster Stelle und beobachtet das Team bei den letzten Handgriffen. „Ich bin gerade erst gekommen, aber mein Freund hat mir den Platz frei gehalten“, sagt er und nickt in Richtung des Mannes neben ihm. Das Essen würde ihm immer gut schmecken, regelmäßig sei er Gast bei der Essensausgabe. Die arabischen Speisen, eine gelungene Abwechslung.

Ramadan ist für viele Muslime die wichtigste Zeit des Jahres

Auf zwei mit Tischdecken bedeckten Tischen stehen silberne Catering-Schalen, gefüllt mit Gemüsereis und Hähnchen. Daneben gibt es Limonaden, Kaffee, Wasser und eine Platte mit frischem Obst. Ausgeschenkt wird in bunten, spülmaschinenfesten Plastikbechern.

Ahmed Gassa und Benajem Driss verteilen selbst gekochte Speisen an Wohnungslose am Haupfbahnhof in Mülheim. Gekocht wurde alles von Donia Gassa.
Ahmed Gassa und Benajem Driss verteilen selbst gekochte Speisen an Wohnungslose am Haupfbahnhof in Mülheim. Gekocht wurde alles von Donia Gassa. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

Seit dem zweiten April fasten viele gläubige Muslime. Der Ramadan ist eine der fünf Säulen des Islams und für viele Muslime die wichtigste Zeit des Jahres. Von Sonnenaufgang bis Untergang wird auf Getränke und Essen verzichtet. Erst wenn die Sonne untergeht kommt es zum Iftar, dem festlichen Fastenbrechen.

Beim Ramadan geht es um Verzicht und Nächstenliebe

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Ist es nicht schwer, das Essen zu kochen und zu verteilen, während man selbst noch fastet? „Überhaupt nicht“, meint Ahmed Gassa, Vorsitzender des Marokkanischen Vereins. „Das macht sogar Spaß!“ Beim Ramadam gehe es darum, zu verzichten. „Wir sollen fühlen, wie es ist, nichts zu haben.“ Den Menschen gleichzeitig zu helfen und Gutes zu tun sei eine große Freude.

Jedes Jahr würde der Verein für Projekte in Marokko spenden. „Aber wir sind Mülheimer und wollten auch etwas für unsere Stadt tun.“ Schnell kam der Kontakt mit „Solidarität in Mülheim“ zustande. „Wir möchten die Mitglieder mal entlasten. Das ganze Jahr über kümmern sie sich um andere. Jetzt haben sie Urlaub.“

Gründe für Bedürftigkeit gibt es in Mülheim viele

Jeden Tag kommen zwischen 25 und 35 Bedürftige zur Ausgabe, so Gassa. Nicht alle Gäste sind wohnungslos, etwa die Hälfte, schätzt der Helfer. Gründe für Bedürftigkeit gibt es viele. Diverse Suchtprobleme, eine zu kleine Rente gepaart mit Schulden, Arbeitslosigkeit oder Obdachlosigkeit.

Auch die 29-jährige Sarah steht mit einem Teller in der Halle. Ihr Blick ist neugierig, ihre Augen groß und sie zittert ein wenig. Sie sei zwar eher selten hier, aber das Essen schmecke immer sehr gut. Ihr Mann und sie hätten zwar eine Wohnung in Mülheim, seien aber auf gelegentliche Unterstützung angewiesen. „Das warme Essen hilft uns schon sehr.“ Während sie isst, wird sie wiederholt von anderen Gästen gegrüßt. „Man kennt die Leute hier schon“, erklärt sie lächelnd.

Viele Bedürftige werden in der Gesellschaft nicht beachtet

Was auffällt, es herrscht ein sehr angenehmer und vertrauter Umgangston unter den Beteiligten. Ein Helfer fragt: „Kaffee wie immer“? Hier geht es nicht nur um die reine Versorgung der Grundbedürfnisse. Die Vereinsmitglieder laufen durch die Reihe, scherzen mit Gästen und nennen sie beim Namen. Für Fatima Zahra ist das selbstverständlich. Die junge Frau ist Gassas Tochter und arbeitet in einer Nachhilfeschule. Ein paar ihrer Nachhilfeschüler konnte sie zum Helfen motivieren.

„Die Priorität ist es, Vertrauen aufzubauen, und das ist nicht leicht. Die meiste Zeit werden die Menschen von der Gesellschaft sehr schlecht behandelt. Nicht beachtet, nicht gegrüßt - das ist entmenschlichend“, so Zahra. Mit den Gesprächen, netten Gesten und Scherzereien werden die Menschen vom Rand der Gesellschaft wieder mehr in die Mitte geholt. Was Zahra irritiert: „Viele Leute fragen, warum wir das machen. Das Selbstlose ist in unserer Gesellschaft nicht normal.“

Mülheimer Paar kommt regelmäßig

Doch in den vergangenen Tagen hätte der Marokkanische Verein auch regelmäßig positive Mails erhalten. „Fremde Leute finden die Aktion toll und wollen spenden. Manchmal kommen auch hier Leute vorbei und geben spontan Geld ab.“ Ihr Vater habe in der Moschee 300 Euro als Unterstützung bekommen. „Es gibt ein arabisches Sprichwort und das ist auch unser Motto: ‚Eine Hand kann nicht alleine klatschen.‘“

Die Mülheimerin Rita mag das arabische Essen besonders gern.
Die Mülheimerin Rita mag das arabische Essen besonders gern. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

Rita und Theo sind ein Paar und gemeinsam hier. Sie sitzen mit ihren Tellern auf einer Sitzgelegenheit vor dem Eingang. Seit zwei Jahren kommen sie regelmäßig zur Essensausgabe am Hauptbahnhof. „Ende des Monats trifft man sich hier häufiger“, meint Theo und lacht. 37 Jahre habe er für eine Firma gearbeitet, bekommt eine Rente und hat eine Wohnung, doch für einen ganzen Monat reiche das Geld eben nicht. In den letzten Jahren hat sich Ritas Leben in eine Abwärtsspirale verwandelt. Trotzdem leuchten ihre Augen und ihr Lächeln ist freundlich und offen.

Obdachlosigkeit: Oft eine Verkettung von Umständen

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Sie komme aus Litauen, erzählt sie. Vor ein paar Jahren sei ihr Freund verstorben, sie habe ihren Job und ihre Wohnung verloren. Sie sei gelernte Tapeziererin, habe auch für eine große Schuhmarke gearbeitet und noch im vergangenen Jahr in einer Schule geputzt. Obwohl sie da schon obdachlos gewesen war? „Ja, ich musste lügen“, so Rita. Doch nach einer Verletzung bei der Arbeit sei sie sofort entlassen worden, und ohne Wohnung ist es in Deutschland beinahe unmöglich, eine Beschäftigung zu finden. Der Aufstieg aus der Wohnungslosigkeit wird dadurch deutlich erschwert.

Die Essensausgabe von „Solidarität in Mülheim“ bedeutet den beiden viel, das machen sie deutlich. „Auch während Corona stand der Verein hier jeden Tag. Während andere Hilfsangebote geschlossen waren.“ Sogar eine Weihnachtsfeier habe es mal gegeben. „Mit Geschenken“, schwärmt Rita. Doch auch der Marokkanische Verein sei sehr nett und das Essen trifft Ritas Geschmack. „Ich habe immer schon gerne arabisch und generell gut gewürztes Essen gegessen.“

Mülheimer Essensausgabe ist mehr als nur Nahrung

Die beiden berichten von anderen Essensangeboten und sind sich einig. „Hungern muss in Deutschland wirklich niemand.“ Doch es geht eben auch noch um andere Punkte. Neben warmen Essen auch warme Worte, einen Treffpunkt mit Bekannten und gelebte Solidarität.

Ramadan 2022

In diesem Jahr feiern die Muslime den Fastenmonat Ramadan vom 2. April bis zum 2. Mai. Da Muslime nach einem reinen Mondkalender leben, rückt der Ramadan jedes Jahr um etwa zehn bis elf Tage vor, so dass die Fastenzeit im Laufe der Zeit alle Jahreszeiten berührt. Während des Ramadans werden die religiösen Pflichten der Muslime sichtbar. Nach der Überlieferung wurde der Koran in diesem Monat vom Himmel herabgesandt.

Während des Ramadans sollen die muslimischen Gläubigen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang fasten und auch auf andere irdische Vergnügungen wie Geschlechtsverkehr oder Rauchen verzichten. Auch moralisch-ethische Aspekte sind zu beachten. So soll man beispielsweise während des Ramadans nicht lügen oder fluchen, sondern Herz und Geist so rein und frei von Sünde wie möglich halten und Gutes tun.