Mülheim. Marga Todts Erzählungen sind wie spannende Geschichtsstunden: Sie kannte noch die Synagoge, sah Mülheim in Trümmern – und lehrte am Steinknappen.
Es gibt eine Szene, die beschreibt sehr hübsch, was Marga Todt als Lehrerin ausmachte: „Ich hatte oft ein Dirndl an und eine Dirndlschürze. Wenn Pause war, habe ich die Schürze ausgezogen und mit allen Kindern Völkerball gespielt. Dann habe ich sie wieder angezogen – und dann war ich wieder ihre Lehrerin.“ Dieser Beruf sei genau das gewesen, was sie in den 1940ern und 50ern gewollt habe. Bis heute hält die Mülheimerin Kontakt zu ehemaligen Schützlingen der längst abgerissenen Steinknappenschule. Einige von ihnen werden am Montag zum Telefonhörer greifen: Marga Todt wird 100 Jahre alt!
Wer der alten Dame zuhört, bekommt noch heute eine Idee davon, wie sie Schüler und Schülerinnen einst fesseln konnte. Es ist spannender Geschichtsunterricht, wenn sie zurückblickt auf zehn Jahrzehnte Mülheim. Als Marga Wessel hat sie am 31. Januar 1922 das Licht der Welt erblickt, als Tochter von Hermann und Anna Wessel. Maria hieß die jüngere Schwester. Bis zum fünften Lebensjahr wohnte die Familie an der Wallstraße, in unmittelbarer Nähe der Synagoge. Die kleine Marga liebte es, die breiten Mauern am Eingang des jüdischen Gotteshauses herunterzurutschen. Sie hat die Synagoge, die in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 von den Nazis in Brand gesetzt und zerstört wurde, noch sehr genau vor Augen – das können vor Ort nicht mehr viele Menschen behaupten.
Wohnung der Eltern wurde beim Angriff auf Mülheim ausgebombt
Die Familie zog an die Kampstraße. Und später an die Oberstraße. „Diesen Umzug hätten wir uns besser gespart“, stellt Marga Todt nüchtern fest. „Die Wohnung wurde im Krieg ausgebombt.“ Die Eltern standen nach dem Angriff alliierter Bomber in der Nacht zum 23. Juni 1943 also ohne Dach über dem Kopf und mit leeren Händen da. Hermann Wessel, der als Werkmeister bei Thyssen arbeitete, und seine Frau Anna fanden zum Glück schnell eine neue Unterkunft an der Dinnendahls Höhe. „Über Bezugsscheine konnten sie diese auch bald einrichten“, erinnert sich die Tochter.
Sie selbst lebte zu diesem Zeitpunkt Hunderte Kilometer entfernt in einem polnischen Dorf namens Orlin, in einem von den Nazis annektierten Gebiet auf halber Strecke zwischen Posen und Warschau. Nach dem Abitur 1940 hatte sie kurzzeitig Lehramt in Dortmund studiert und war dann mit gerade 20 in die „wilde Fremde“ geschickt worden. Allzu großen Kummer bereitete ihr das nicht: „Es war wunderschön. Ich hatte Glück, bin gut aufgenommen worden.“ Weit weg von zu Hause verlebte sie eher ruhige Kriegsjahre. „Die nächste Bahnstation lag 35 Kilometer entfernt, und es gab nur Pferdewagen.“ Ihr Zuhause bestand aus zwei Zimmern neben einem Betsaal der evangelischen Kirche, der Alltag aus dem Unterrichten deutschstämmiger Kinder. Zu essen sei immer ausreichend da gewesen.
Erlösung brachte erst ein Telegramm: „Wir leben – Haus ausgebrannt“
Auch wenn sie abgeschieden lebte, dass in Mülheim 1943 Schreckliches passierte, erfuhr sie trotzdem alsbald: „Das Radio sprach von 136 Toten. Ich bin sofort ins Dorf gelaufen und habe Leute gesucht, die Näheres wussten.“ Tatsächlich kamen rund 500 Menschen ums Leben. Tochter Marga wurde durch ein Telegramm erlöst: „Wir leben – Haus ausgebrannt.“
Die Trümmer der Ruhrstadt sah Marga Todt Anfang 1945: „Am 24. Januar war ich zurück, nach vier Tagen Flucht mit dem Fahrrad.“ Zum Teil hatten Soldaten sie auf dem Lastwagen mitgenommen. „Morgens um sechs Uhr habe ich bei den Eltern geschellt – meine Mutter dachte, es sei schon wieder Alarm. Sie hörte nicht gut. Aber irgendwann ist der Groschen gefallen.“ Die Familie war glücklich wieder vereint. Später stieß auch Maria wieder hinzu, die in Tschechien in der Kinderlandverschickung war.
Fräulein Wessel wurde für den Unterricht der katholischen Kinder eingestellt
Noch in den letzten Kriegswochen begann dann das, wovon Marga Todt bis heute glücklich erzählt: „Ich bin zum Schulamt gegangen und habe zufällig mitbekommen, dass der Leiter der Steinknappenschule 86 Kinder allein zu unterrichten hatte.“ Wilhelm Kuhlmann erhoffte sich Unterstützung von der Behörde, und da kam das Fräulein Wessel gerade recht. Da sie auch noch die passende Konfession hatte, durfte sie alsbald am Steinknappen starten. Kuhlmann übernahm die evangelischen Kinder und sie die kleinen Katholiken.
„Rechnen, Schreiben, Lesen, und auch alles andere“ wurde damals aus einer Hand gelehrt. Die Klassenräume waren voll, mehrere Jahrgänge teilten sich die zwei Zimmer des 1846 errichteten, kleinen Schulhauses. Das Gebäude, das noch bis 1969 an der Ecke Steinknappen/Oesterwindweg stand, war ein trubeliger, fröhlicher Ort. Daran erinnern sich auch Heinz Herrschaft (82) und Elisabeth R. (84), die ihren vollen Namen ungern in der Zeitung lesen möchte. Dass Fräulein Wessel eine tolle Lehrerin war, möchten aber beide gern erzählen.
Die Geburtstage der Lehrer waren Feiertage für die Jungen und Mädchen
„Da waren zum Beispiel diese besonderen Tage: der 17. Dezember und der 31. Januar, wenn Herr Kuhlmann und Frau Wessel Geburtstag hatten. Das waren für uns Kinder Feiertage“, erinnert sich Elisabeth R. „Wir haben das Pult gedeckt und jeder brachte etwas zu essen mit.“ Den Kindern aus dem dörflichen Menden sei es immer recht gut gegangen. Und die Lehrer pflegten engen Kontakt mit ihnen: „Herr Kuhlmann hat mit den Bauern gern Skat gespielt.“
Selig waren die Jungen und Mädchen auch, „wenn der Nikolaus kam“, berichtet Heinz Herrschaft. Unter dem Kostüm steckte Marga Todts späterer Ehemann Kurt, ebenfalls ein Pädagoge. Der bekannte Mülheimer Künstler Ernst Rasche spielte den Knecht Ruprecht. „Jedes Kind bekam einen Pumann“, erinnert sich der frühere Schüler.
Mit den Abschlussklassen machten Lehrerin Wessel und Lehrer Kuhlmann gern einen Wandertag zum Icktener Bauernhaus, einem beliebten Ausflugslokal. Auch daran denken sie gern zurück.
Die Atmosphäre war familiär – auf der Nase herumgetanzt sind ihr die Kinder aber nie
Die ehemaligen Schüler schwärmen von der Zeit am Steinknappen, und auch Marga Todt erinnert sich gern: „Wir waren wie ein Familienbetrieb, das wollten wir Lehrkräfte so.“ Auf der Nase herumgetanzt seien ihr die Kinder trotzdem nie. „Wenn ich die Schürze wieder angezogen habe, haben sie auf mich gehört.“
Was die Hundertjährige bis heute freut, sind die Treffen mit alten Schülern und Schülerinnen. Seit Anfang der 70er kommen alle drei, vier Jahre Menschen zusammen, die einst die Steinknappenschule besucht haben. Immer mittendrin ist dann „die Marga“, wie sie alle nennen dürfen, seit sie im Jahr 2000 beschlossen hat, den ehemaligen Volksschülern das lästige „Sie“ zu ersparen. Nicht nur die einstigen Jungen und Mädchen aus Menden schätzen die alte Dame. Auch die Kinder aus Orlin in Polen haben sie nie vergessen. Und so haben einige von ihnen Marga Todt schon in Mülheim besucht. Ihr gemütliches Wohnzimmer ist ein guter Ort, um über alte Zeiten zu plaudern. . .
Aktuell zählen zwölf Enkel und 13 Urenkel zur Familie
Mitte der 50er Jahre, als sie jung verheiratet und mit dem ersten ihrer drei Kinder schwanger war, kündigte Marga Todt ihren Job. Als Frau parallel zu Haushalt und Familie berufstätig zu sein, das sei damals einfach nicht vorgesehen gewesen. Gemeinsam mit den Eltern Wessel errichteten Marga und Kurt Todt ein Mehrgenerationenhaus an den Holthauser Höfen. Dort lebt die Hundertjährige noch immer, gemeinsam mit einem Sohn und dessen Familie. Seit 2008 ist sie Witwe, ihre Familie aber wächst und wächst. Aktuell zählen zwölf Enkel und 13 Urenkel dazu.
Ihren Mann hat sie übrigens früh kennengelernt, „in den 30er Jahren bei der katholischen Jugend von St. Mariae Geburt“. Er wohnte in der Tilsiter Straße, und wenn sie zur Kirche liefen, kreuzten sich ihre Wege. Kurt Todt, Jahrgang 1926, musste früh als Soldat dienen, holte nach dem Krieg Abitur und Studium nach. Viele Jahre war auch er als Lehrer tätig. Dass sie ihn lang überlebte und heute 100 Jahre alt wird, ist für Marga Todt kaum der Rede wert. „Wat kommt, dat kommt“, sagt sie. „Solange mein Kopf klar ist, ich mich selbstständig bewegen kann und nicht abhängig bin, ist alles gut.“